Eigentlich gab es für Angela Merkel, als sie am 20. September 2005 im Amt des Bundeskanzlers auf den Sozialdemokraten Gerhard Schröder folgte, nichts zu tun. Schröder hatte das Feld gut bestellt. Die Wirtschaft boomte, auch dank der inneren Abwertung Deutschlands durch die Hartz-Reformen, die den Sozialdemokraten schließlich die Kanzlerschaft gekostet hatten. Das Konzept einer an New Labour orientierten neuen Sozialdemokratie war an der Haltung der Gewerkschaften und eines Teils seiner eigenen Partei gescheitert.
Doch für den sozialpolitischen Flügel der Sozialdemokraten stellte sich à la longue der Sieg als Pyrrhussieg heraus, denn sie ging mit dem ungeliebten Gerhard Schröder unter, weil den Sieg schließlich der identitätspolitische Flügel davontrug, der auch linke bis linksradikale Positionen aufsog. Damit enden die Pyrrhussiege jedoch nicht; der Sieg der Identitätspolitiker bescherte der früheren Arbeiterpartei ein Siechtum durch Auszehrung: Die SPD macht seitdem Politik gegen diejenigen, deren Interessen sie traditionell vertrat.
Die Analyse der marxistischen Philosophin Nancy Fraser trifft den wunden Punkt. Sie stellte fest, dass genau die „Strömungen emanzipatorischer Bewegungen in einem direkten Gegensatz zu Menschen“, zu „Verfechtern altmodischer Familienwerte und Lebenswelten“ stehen, die aber doch bis dahin die wichtigsten Verbündeten der Linken sein sollten und könnten.
Vor Kurzem machte ein Satz auf der Sommerpressekonferenz der Bundeskanzlerin Karriere, der von den Medien als Versprecher eingeordnet wurde. Merkel antwortete auf die Frage, was sie am Wahlabend zu tun gedenke: „Ich werde schon Verbindung zu der Partei haben, die mir nahe…, deren Mitglied ich bin.“ Doch in diesem fast meisterhaft kurzen Statement bestimmte Angela Merkel – möglicherweise bewusst, da Versprecher ihr eigentlich nicht unterlaufen – ihre politische Position. Denn die Partei, die ihr nahesteht, sind die Grünen, Mitglied ist sie jedoch bei der CDU, die sie weit ins linke Feld geführt und dadurch die Gesellschaft radikal gespalten hat.
Vielleicht ist diese Spaltung ihr größtes Vermächtnis. Ihr doppeltes Bekenntnis kann daher nur ein Aufruf zu Schwarz-Grün sein, was in Wahrheit Grün-Grün wäre, denn nur in einer Regierung ohne die Grünen könnte die CDU wieder zur CDU werden. Im anderen Fall würde die CDU von den Grünen aufgesogen und das Land in einen Kampf um die Demokratie gestürzt.
Eindrucksvoll belegt wird diese These durch Merkels Regierungshandeln selbst. Die Aussetzung der Wehrpflicht, die de facto einer Abschaffung der Wehrpflicht gleichkam, war im Jahr 2011 der erste Schritt auf dem Weg der Umsetzung grüner Politik. Im gleichen Jahr verabschiedete sich die Bundeskanzlerin von Deutschlands Energiesicherheit und leitete den Prozess der Deindustrialisierung mit dem Ausstieg aus der Kernenergie und der umfassenden Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) ein.
Damit wurde ein Prozess angestoßen, der die Heroen der erneuerbaren Energie reich und die Energiekunden, auf die die Subventionen über die Stromrechnung umgelegt werden, von Jahr zu Jahr ärmer macht. Mit dem Ausstieg aus der Kernenergie und der Subventionierung einer Phantomindustrie hatte die Kanzlerin den Übertritt ins grüne und mithin linke Lager vollzogen.
Totschläger „Alternativlosigkeit“
Diese Geste passt nahtlos zu Merkels Äußerungen über „Alternativlosigkeit“, „Diskussionsorgien“ und Wahlergebnisse, die „unentschuldbar“ und daher „rückgängig“ zu machen seien. Seitdem ist unter Bruch demokratischer Regeln der Linke Bodo Ramelow von Merkels Gnaden Ministerpräsident in Thüringen. Von Kommunisten, für die die Demokratie immer nur ein Problem der Taktik darstellt, erwartet man nichts anderes, von Christdemokraten schon. Stellt sich die Frage, inwieweit Merkel eine Christdemokratin ist.
Im Grunde folgte die Kanzlerin in ihrem Tun vielen Vorstellungen der Linken, indem sie zum Beispiel die sogenannte Griechenland-Rettung 2015 und die Entmachtung der Bundesbank in die Wege leitete, um das wiedervereinigte Deutschland so schnell wie möglich in einer EU Brüsseler Herrschaft aufzulösen, den deutschen Souverän der Brüsseler Bürokratie und Technokratie zu unterstellen.
Der linke Philosoph Henri Lefebvre kritisierte das linke, heute grüne Justemilieu bereits in den 1980er-Jahren dafür, dass es der Errichtung einer technokratischen Gesellschaft jede wirkliche Emanzipation unterordnen würde – allein zum Erhalt ihrer sozialen Kaste.
Die seit 2015 durch die Bundeskanzlerin ermöglichte Masseneinwanderung, die weiterhin anhält, auch wenn die Medien – nach dem Motto: Worüber wir nicht berichten, das findet nicht statt – den Mantel des Schweigens darüberbreiten, folgt der gleichen Ideologie. Nachdem Merkel die deutschen Sozialkassen für alle öffnete, die das Wort „Asyl“ aussprechen können, und dadurch auch das Asylrecht wie das Sozialrecht demolierte, feierten die Grünen die Kanzlerin.
Deutschland werde sich drastisch verändern, so die Grünen, und sie sollten recht behalten: Der Antisemitismus nimmt in drastischem Maß zu, die innere Sicherheit in drastischem Maß ab, ebenso die Rechtstaatlichkeit und die Demokratie, weil diejenigen, die grundsätzliche Kritik an der grünen Politik der Kanzlerin üben, häufig gecancelt, medial marginalisiert werden.
Da die Kosten für die Migration, die Energiepolitik und die Klimapolitik ins Unermessliche steigen, helfen nur noch eine kaum kaschierte direkte Staatsfinanzierung durch die Notenbank, die Fortführung der Nullzinspolitik bei gleichzeitiger Ankurbelung der Inflation und neue Steuern. Angesichts dieser Belastungen wird die Diskussion über den Generationenvertrag zum Hohn, denn die Regierung Merkel hat den Generationenvertrag mit allen Generationen bis einschließlich der Babyboomer mehrfach gebrochen.
„Große Transformation“
Wie sehr Angela Merkel ideologisch im linken Lager lebt, zeigt ihr Engagement für die „Große Transformation“, das heißt für ein Konzept des sozialistischen Wirtschaftswissenschaftlers Karl Polanyi, dessen Ziel darin besteht, die Wirtschaft zum Anhängsel der Politik zu machen und die Freiheit des Marktes zu beenden. Bis in die 1980er hinein fristete diese Theorie eine bescheidene Existenz auf dem Hinterhof der antikapitalistischen Linken. Doch mit Beginn der 2000er-Jahre stieg sie wie Phönix aus der Asche.
Es ist exakt das, was die Grünen vorschlagen. Die öffentliche Hand, der Staat, soll vorgeben, wo auch Bürger und Unternehmen zu investieren haben. Die freie Marktwirtschaft sei wichtig, aber nur, wenn der Staat dafür sorge, dass „die großen Kräfte der Märkte, der Marktwirtschaft in die richtige Richtung laufen – und dann brauchen wir alle die Freiheit der Märkte, die Kreativität der Unternehmerinnen und Unternehmer“. Stalin bemerkte seinerzeit: „Wenn die Richtung klar ist, entscheiden die Kader alles. Unternehmer, denen die Richtung gewiesen wird, sind dann nur noch Kader einer Gemeinwohlwirtschaft.“
Um das zu verwirklichen, so der Grünen-Parteivorsitzende Robert Habeck, „bauen wir von der Mission aus, vom Ziel her aus, eine klimaneutrale Gesellschaft. Wir brauchen dafür die freien Märkte, das freie Unternehmertum, aber es muss eine Richtung bekommen, es muss sich dem gesellschaftlichen Ziel anschließen, und die Richtung bekommt es, wenn die öffentliche Hand mit ihrer Finanzierung vorangeht.“
Das Mittel zur Errichtung der Gemeinwohlwirtschaft ist die Drohung mit dem Weltuntergang, die Ideologie hierfür die Klimaapokalyptik. So sagte die deutsche „Fridays for Future“-Sprecherin Luisa Neubauer in einem Interview mit der „taz“: „Menschen, die sich mit der Klimafrage beschäftigen, stellen irgendwann auch die kapitalistische Wirtschaftsweise infrage.“
Es wundert nicht, dass auch Angela Merkel der Großen Transformation das Wort redet. In Davos sagte sie: „Das sind natürlich Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß. Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen.“ Bei Lichte besehen sind Merkels neue Wertschöpfungsketten Wertvernichtungsketten.
Kritiker gelten als Unmenschen
In den vergangenen Jahren krönte Angela Merkel die Doktrin der Alternativlosigkeit mit dem Konzept des Armageddon-Imperativs: Jede Maßnahme der Regierung wird mit dem drohenden Weltuntergang gerechtfertigt und Kritiker damit als Unmenschen abserviert. Ob es die Klima- oder die Pandemiepolitik der Regierung ist, stets werden die Maßnahmen nicht rational begründet, sondern mit Verweis auf die Apokalypse gegen Kritik gepanzert. Wenn aber jegliche Rationalität und Verhältnismäßigkeit nicht mehr zugelassen werden und stattdessen es sich nur noch um Sein oder Nichtsein handelt, treibt eine hysterisierte Gesellschaft auf den Zustand des Nichtseins zu.
Ein Muster im politischen Handeln der Bundeskanzlerin fällt auf, dass der Medienmär widerspricht, wonach die Kanzlerin als Naturwissenschaftlerin die Prozesse immer vom Ende her bedenken würde. Genau das Gegenteil ist der Fall – sie vollzieht plötzliche Kehrtwenden, die nur mit Panik und Angst erklärt werden können.
Obwohl die Regierung Merkel die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke gerade erst beschlossen hatte, änderte sie zum Beispiel nach dem Unglück von Fukushima ihre Energiepolitik radikal, übernahm im Grunde grüne Positionen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Landtagswahl in Baden-Württemberg gleichwohl verloren ging.
Noch ein Beispiel: Obwohl seit Anfang 2015 die Bundesregierung valide Informationen darüber besaß, dass sich ein gewaltiger Flüchtlingsstrom auf Europa zubewegte, schloss die Bundeskanzlerin die Augen. In Budapest kulminierten die Ereignisse. Im Interesse Deutschlands und Österreichs ließ der ungarische Ministerpräsident die ungarischen Grenzen schließen und winkte die Flüchtlinge, die sich am Budapester Hauptbahnhof befanden, nicht einfach nach Österreich und Deutschland durch.
Dass Viktor Orbán Deutschland helfen wollte, hat ihm Merkel nie verziehen. Am 12. September 2015 fand jedenfalls wegen der Flüchtlinge am Budapester Hauptbahnhof eine Telefonkonferenz statt. Es wurde (Quelle: Robin Alexander, „Die Getriebenen“) beschlossen, ab dem 13. September Grenzkontrollen einzuführen. Einsatzbefehle wurden geschrieben und zusätzliche Polizeikräfte an die Grenze verlegt. Alle Flüchtlinge sollten „auch im Falle eines Asylgesuches“ zurückgewiesen werden.
Am Ende setzte sich aber die Migrationslobby durch, und die Einsatzbefehle wurden ins Gegenteil verkehrt. Wieder leitete Angela Merkel eine radikale Kehrtwende ihrer Politik hin zu grünen Positionen ein. Der Innenminister erließ eine Anordnung, wonach „Drittstaatsangehörige ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens, die Einreise“ zu gestatten sei.
Die Willkommenskultur wurde so zum ideologischen Rammbock gegen die Meinungsfreiheit. Merkel selbst bevorzugte 2016 zeitweilig sogar die Bezeichnung „diejenigen, die schon länger hier leben“, um die grundgesetzkonformen Begriffe „Deutsche“ und „deutsches Volk“ zu vermeiden.
Und schließlich: Obwohl die Bundesregierung bereits Ende 2019 Kenntnisse über den Ausbruch der Pandemie in China gehabt haben dürfte, verharmloste Merkels Regierung die Gefahren bis in den März 2020 hinein. Es wurde sogar unterstellt, dass die Gefahren, die von Covid-19 ausgingen, nur rechte Hetze wären. Doch in einer wieder einmal panischen Reaktion verhängte die Regierung Merkel im Frühjahr 2020 den Shutdown, um seitdem mit inadäquaten Maßnahmen der Wirtschaft schweren Schaden zuzufügen, die Freiheitsrechte in einem maßlosen Fall von Selbstermächtigung einzuschränken und die Gewaltenteilung aufzulösen.
Merkels zu lange Kanzlerschaft hinterlässt ein tief gespaltenes Land, in dem die Regeln eines respektvollen Disputs, des demokratischen Wettbewerbs aufgelöst sind. Es ist ein Land, das in eine schwere wirtschaftliche, kulturelle, soziale, politische Krise und in eine Krise der Bildung, der inneren Sicherheit und der Verfasstheit taumelt.
Angela Merkel wird wie stets die Verantwortung weit von sich weisen. Aber man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass sie nicht auf den guten Seiten der deutschen Geschichte ankommen wird.
Weiterlesen:
Klaus-Rüdiger Mai, Die Zukunft gestalten wir. Wie wir den lähmenden Zeitgeist endlich überwinden. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 232 Seiten, 20,00 €
Philip Plickert, Merkel. Die kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft. FBV, Paperback, 320 Seiten, 18,00 €