In Griechenland hat man mit Entsetzen und Erschrecken auf das Afghanistan-Desaster des Westens reagiert: Entsetzen über den missglückten Rückzug der Nato-Verbündeten, Erschrecken jedoch über das, was nun an den eigenen Grenzen bevorstehen könnte. Die EU-Route der meisten Afghanen – über den Iran und die Türkei nach Griechenland – ist hinreichend bekannt, um die Erwartungen zu begründen.
Die Szenen der letzten Nato-Tage in Afghanistan, die in den griechischen Nachrichten mit effektvoller Musik unterlegt wurden, verdeutlichten jedem Fernsehzuschauer die äußerste Zerrüttung des Landes, aus der das Publikum – quasi logisch – auf einen bald einsetzenden Flüchtlings- und Migrantenstrom aus dem Land schließen konnte. Parallel startete der konservative Asyl- und Migrationsminister Notis Mitarakis seine eigene Medienoffensive, um vor allem eine Botschaft im öffentlichen Bewusstsein zu verankern: Wir halten die Grenzen zur Türkei dicht.
Die Prioritäten sind dabei klar. Zuerst kommt der Grenzschutz, dann will man sich mit den Mittelmeeranrainern (MED5) und EU-Partnern abstimmen, um gemeinsam zu handeln. Griechenland werde an den See- und Landgrenzen dauerhaft »in der größtmöglichen Alarmbereitschaft bleiben«.
Griechenland habe nicht vor, die Krise nur als passiver Beobachter zu verfolgen. Vielmehr werde man in den »europäischen Foren« als »aktiv Handelnder« auftreten, um der befürchteten – beinahe schon als sicher angesehenen – Migrationswelle aus Afghanistan »wirksam zu begegnen«. Zusammen mit seinen Ministerkollegen aus Spanien, Italien, Malta und Zypern hatte Mitarakis das Treffen der EU-Innenminister angeregt. Bei dieser Einbindung »europäischer Foren« geht es Mitarakis und der griechischen Regierung aber wohl vor allem um eins: sich Rückendeckung zu verschaffen für einen entschiedenen Grenzschutz in der Ägäis und am Evros.
Trump versprach ihn, Griechenland baut ihn
Zugleich eilte der parteilose Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis (ehemals Pasok) an die Evros-Grenze, um einen weiteren Abschnitt des Grenzzauns zu besichtigen. Dabei waren auch Verteidigungsminister Panajotopoulos und Generalstabschef Floros. Auch Chrysochoidis zeigte sich entschieden und versicherte die griechische Öffentlichkeit, dass man die befürchtete Migrationswelle nicht untätig abwarten werde: »Unsere Grenzen werden sicher und unverletzlich bleiben.« Man werde keine irregulären Übertritte erlauben. Der Zaun ist damit – ein Jahr nach der ersten Ankündigung des Neubaus – auf 40 Kilometer Länge angewachsen, Hightech-Überwachung inklusive. Das Stahlgebilde ist fünf Meter hoch und mit Pfeilern errichtet, die sechs Meter tief in die Erde reichen. Langfristig sollen weitere Zaunabschnitte entstehen. Bis dahin wird die Landgrenze auch mit beweglichen Absperrungen aus Concertina-Draht gesichert.
Zugleich wird die Einsatzbereitschaft wegen der erwarteten Krise überprüft, darunter ist auch die neuartige Schallkanone, die Grenzübertreter mit großer Sicherheit abschrecken soll. Nicht nur werden Soldaten als Grenzwächter eingesetzt, auch Drohnen – meist vom israelischen Typ »Heron«. Auch auf die Ägäis-Inseln sollen zusätzliches Personal und Einsatzmittel geschickt werden. Man will um jeden Preis Entschiedenheit demonstrieren. Weitere neue Grenzpolizisten und Küstenschützer sollen eingestellt werden. Seit letztem Jahr wurden 400 neue Grenzpolizisten und 800 neue Küstenschützer angeheuert.
Indessen besagen Schätzungen, dass sich schon heute 500.000 Afghanen in den westlichen Provinzen der Türkei aufhalten. Schon jetzt versuchen täglich 500 Migranten, meist Afghanen, die Evros-Grenze zu überwinden. Die eigentliche »Welle« neuer Afghanistan-Flüchtlinge und Emigranten wird aber erst in etwa einem Monat erwartet. So lange dauert ihre Reise durch Iran und Türkei für gewöhnlich.
»Das Land wird nicht schutzlos sein wie 2015«
Von der Türkei erwartet Migrationsminister Mitarakis, als »Damm« zu agieren. Dann – und nur dann – könne sie auf die Unterstützung der EU bauen. Bis jetzt habe die Türkei in dieser Hinsicht aber kein Vertrauen aufgebaut, ihr Verhalten rufe zwiespältige Gefühle hervor, eine »korrekte Umsetzung« der gemeinsamen EU-Türkei-Erklärung kann Mitarakis nicht erkennen. Immerhin konnten Premierminister Mitsotakis und Präsident Erdogan Übereinstimmung dahingehend erzielen, dass die direkten Nachbarländer Afghanistans bei der Aufnahme von Migranten unterstützt werden sollen.
Dennoch machen sich die griechischen Grenzschützer laut offiziellen Quellen »auf das schlimmste Szenario« gefasst. Die Grenzen werden, wie es in diesem Fall heißt, »gepanzert«. Die offizielle Einschätzung ist zwar, dass es diesmal nicht so weit kommen wird wie im März 2020, als die Türkei bewusst alle Kanäle für die illegale Migration öffnete. Aber das dürfte auch mit der griechischen Bereitschaft zum Grenzschutz zu tun haben. Ein Regierungssprecher stellte fest: »Auch die Türkei wünscht keine Migrationsströme, aber eindeutig ist, dass Griechenland sich heute auf anderem Kurs befindet. Auf keinen Fall werden wir Szenen wie 2015 sehen, auf keinen Fall wird das Land erneut schutzlos sein. Diese Botschaft ist absolut klar sowohl gegenüber Europa als auch gegenüber der Türkei.«
Am Schutzsystem wirken neben der Grenzpolizei und der Küstenwache auch die Streitkräfte mit. Vor allem zur See ist die Zusammenarbeit von Küstenwache und Kriegsmarine der Goldstandard der griechischen Abwehrstrategie. Doch auch an der Landgrenze am Grenzfluss Evros patrouillieren Grenzpolizisten zusammen mit Soldaten. Durchgehend ist zudem die Beobachtung der Grenzen aus der Luft, mit Hubschraubern, Drohnen und bald zwei stationären Frontex-Zeppelinen, die mit Radar und Wärmebildkameras ausgerüstet sind. Auch von Unterwasser-Drohnen wird berichtet.