Mit Prognosen sollte man bekanntlich vorsichtig sein, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Andererseits kann man mit Prognosen auch nicht viel falsch machen, weil sie in der Zukunft ohnehin keiner überprüft. Das beweist Corona eindrucksvoll. Ob Lauterbach bei Lanz nun Prophet oder Kaffeesatzleser war, dass interessiert nachträglich kaum einen. Die Bilanz wäre eindeutig. Egal ob es die Kinder als „Treiber“ der Pandemie sind oder die Prognosen über die Inzidenzen, Hospitalisierungen oder Toten: Die Bundesregierung lag eigentlich in jeder erdenklichen Weise falsch, wenn es die Zukunft betraf. Das RKI modellierte uns schon die letzte Welle, als die schlimmste jemals da gewesene – sie wurde die harmloseste.
Auf derartige Entschuldigungen wartet man in Deutschland vergeblich. Stattdessen steht der nächste Lockdown schon in den Startlöchern – zumindest für die nicht-geimpften Teile der Bevölkerung. Das Bundesgesundheitsministerium legte vergangene Woche ein Papier vor, in dem beschrieben wird, wie man sich den Herbst vorstellt. Lockdown-Maßnahmen für Nicht-Geimpfte sind darin schon fix. Zur Begründung ist vor allem ein Absatz enthalten:
„Modellierungen des RKI zeigen, dass es für die Belastung des Gesundheitswesens (Hospitalisierungen, Intensivbelegung, etc.) einen entscheidenden Unterschied macht, wenn die Impfquote bei den Über-60-Jährigen möglichst über 90 Prozent und bei den zwölf- bis 59- Jährigen möglichst bei über 75 Prozent liegt.“
Die Modellierungen des RKI, auf die hier verwiesen werden, sagen aus, dass Deutschland bei einer Impfquote von 75 Prozent ohne Lockdown-Maßnahmen eine höhere Belastung für die Intensivstationen drohe, als je in einer anderen Corona-Welle zuvor. Das ist schon allein deshalb bemerkenswert, weil die Vorgänge rund um die Manipulation der Intensivbettenstatistik im letzten Herbst immer noch nicht aufgeklärt werden konnten, weswegen das RKI bis heute eigentlich nicht mal weiß, wieviele Corona-Intensivpatienten es in der Vergangenheit gab. Aber für Mitte Januar nächsten Jahres (da vermutet man den Hochpunkt der Kurve der Neuansteckungen), da meint man, man könne eine Modellierung abgeben, aus der sich dann ganz konkrete Politik ableiten lässt.
Dass dieses vom RKI geschilderte Szenario unwahrscheinlich ist, zeigt der Blick ins Ausland. Im Vereinigten Königreich und in den Niederlanden gab es bereits Wellen der Delta-Variante mit astronomischen Inzidenzen – die aber nur eine extrem reduzierte Zahl an Intensivpatienten nach sich zogen (mehr hier).
Beim morgigen Corona-Gipfel werden wohl ganz selbstverständlich Verschärfungen beschlossen werden – Verhältnismäßigkeit oder auch nur Wirksamkeit der Maßnahmen scheinen kaum noch jemanden zu interessieren. Überhaupt irgendeine Begründung bleibt man schuldig: Die Regierung übt sich stattdessen in Argumentations-Pirouetten mit denen versucht wird, die geimpfte gegen die umgeimpften Bevölkerungsgruppe auszuspielen. So als sei der Beschluss eines Lockdowns für Ungeimpfte eigentlich nur die Garantie eines Nicht-Lockdowns für Geimpfte; so als gäbe es nur die Alternative: Beschränkungen für Ungeimpfte oder Beschränkungen für alle.
Dass bis dato überhaupt kein Grund vorliegt überhaupt irgendwelche Restriktionen für die Allgemeinbevölkerung zu beschließen, ist gar nicht mehr Gegenstand der Debatte. Und wenn man dann doch mal schaut: warum das alles eigentlich? Dann steht in den Dokumenten der Regierung ganz tief unten etwas von „Modellierungen des RKI“, die wiederum unter unerklärlichen Bedingungen zustande kommen. Das nennt sich dann Wissenschaft und professionelles Regieren. Eigentlich ist es mehr ein großes soziologisches Experiment, wie lange man eine angeblich aufgeklärte, demokratische Gesellschaft mit Kindergarten-Pädagogik hinhalten kann. Das Ergebnis steht schon fest: Zu lange.