In Deutschland verbindet man mit Kunduz vor allem eine „Affäre“: Weil nicht auszuschließen war, dass damit ein Terroranschlag auf das nahegelegene deutsche Bundeswehrquartier inszeniert werden sollte, hatte der Bundeswehroberst Georg Klein am 4. September 2009 gegen zwei Uhr nachts die US-Luftwaffe um Bombardierung von zwei von den Taliban entführten und auf einer Sandbank bei Kunduz gestrandeten Tanklastwagen gebeten. Dabei kamen – in welcher Zahl blieb lange ungewiss – Taliban und womöglich Zivilisten ums Leben. Mal war von 100, mal von 143 Toten insgesamt, mal von 30 toten Zivilisten, auch von toten Kindern die Rede.
In Deutschland entwickelt sich daraus eine kontroverse und später auch sehr emotionale Debatte. Der zu diesem Zeitpunkt amtierende deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) erklärte, nach seinen Informationen seien bei dem Angriff ausschließlich terroristische Taliban getötet worden. Zugleich verteidigte er Oberst Klein: „Die Entscheidung war völlig richtig.“ Ende Oktober 2009 erklärt auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, der verheerende Luftangriff sei militärisch angemessen gewesen. Ebenso argumentierte der mittlerweile ins Amt gekommene neue Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU).
Eine erste Wendung erfuhr die von den Medien auch als „Affäre Klein“ interpretierte Bombardierung am 26. November 2009: Minister zu Guttenberg entband Generalinspekteur Schneiderhan von seinem Amt und beurlaubte Staatssekretär Peter Wichert. Als Gründe gab der CSU-Politiker die Zurückhaltung von Informationen über das Bombardement an. Am 27. November 2009 trat Jung, mittlerweile Arbeitsminister, wegen „Informationspannen“ in seiner Amtszeit als Verteidigungsminister zurück.
In der Folge kam es zu Klagen vor Zivil- und Verwaltungsgerichten in verschiedenen Instanzen. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte am 6. Oktober 2016 die Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln, dass der damalige Oberst Klein „nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Aufklärungsmöglichkeiten“ nicht habe erkennen können, dass sich im Zielbereich des Luftangriffs Zivilisten befanden. Bereits 2013 hatte das Landgericht Bonn die Forderung von Hinterbliebenen der Opfer des NATO-Luftangriffs nach Schadensersatzzahlungen durch Deutschland abgelehnt. Den an der Militäraktion beteiligten Bundeswehrsoldaten, so das Gericht, sei „keine schuldhafte Amtspflichtverletzung“ vorzuwerfen, für die Deutschland in Regress genommen werden könne.
BGH-Richter heute: „Es war ein Propagandaerfolg der Taliban“
Zwei der fünf am BGH-Verfahren beteiligten Richter erklärten nun im August 2021 in einem Leserbrief in der renommierten Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW), durch den Angriff vom 4. September 2009 seien um die 30 bis 40 Personen betroffen gewesen, darunter größtenteils Taliban – „sicherlich keine Zivilisten, geschweige denn Kinder.“ Eine ISAF-Kommission hatte nach dem Angriff nur noch Spuren von 12 bis 13 getöteten Personen gefunden. Wie viele Tote zwischen dem Angriff und den Feststellungen der ISAF durch die ortsansässige Bevölkerung geborgen wurden, bleibt unklar. Zugleich bedauern die beiden Richter, dass der seinerzeitige Kommandeur Georg Klein (mittlerweile Brigadegeneral) „weiterhin in einem völlig falschen Licht steht.“
Fazit: Es ist durchaus ungewöhnlich, dass zwei hochrangige Richter einen solchen Weg der Information wählen. Die „große“ Presse indes wird von den neuen Einsichten und Urteilen wohl kaum Notiz nehmen. So bleibt es wohl bei einer Lesart, die der „Spiegel“ am 6. Oktober 2016 vorgegeben hatte, als er titelte: „Ein deutsches“ Verbrechen“ – um dann von einem „neuerlichen Wendepunkt in der deutschen Geschichte“ zu schwadronieren. Beteiligt an diesem Spiegel-Artikel war übrigens eine Ulrike Demmer; sie ist heute Merkels stellvertretende Regierungssprecherin.