Eigentlich sollte so eine gewiefte Studie zum Thema „wie rückwärtsgewandt ist die deutsche Gesellschaft“ aufgezogen werden: man stellt eine Reihe heute nun wirklich nicht mehr mit reinem Gewissen zeigbarer Filme auf die Website, nur um dem Zuschauer am Ende des Streifens in greller Neonschrift mitzuteilen, dass er gerade an einem Feldversuch zur Verortung überholter Familienbilder, antiquierter Lebensweisen und rassistischer Tendenzen teilgenommen hat. Gefolgt von einer (Dauerbeschallung wie in der Autostart-Tatort-Mediathek des ARD: …nächster Film beginnt in 5 Sekunden) automatisch startenden Aufklärungssendung in 15 Teilen. Beim Betätigen des „Ausschalt“-Knopfes muss die Frage auftauchen: „Wollen Sie dieses Lernprogramm schon beenden?“
Offenbar meint es der Sender aber ernst. Schickt die um die 100 Sonderkommissionen, Ermittler und Kommissare, Staatsanwälte und Schnüffler neueren Datums in ein aussichtsloses Gefecht um die Gunst der Zuseher, die diese gegen Joachim Fuchsberger (Inspektor bei Scotland Yard), Lex Barker (Old Shatterhand) und Erik Ode(mar) nur verlieren können.
Ein Kommissar wie er im Buche steht?
Die ZDF-Mediathek über den stämmigen Kommissar mit dem schütteren Haar: „Eine Fernsehlegende ist zurück … der Kult-Krimi aus den 70er Jahren mit Erik Ode als Kommissar Keller. Seine Stärken sind ausgezeichnete Beobachtungsgabe und scharfer Verstand..“ Nein, liebes ZDF. Das macht den Kommissar Keller nicht aus. Der quirlige 60jährige Ode spielt diesen Polizisten, als sei ihm die Rolle auf den Leib geschrieben und verkörpert den Ermittler, wie ihn der Zuschauer sehen will: kompromisslos in der Sache, unerbittlich im Ton und außer einem Hang zur Zigarette ohne die vielen Neurosen, die die den tv-cop von heute (Ausnahmen bestätigen die Regel) auszeichnen.
Dieser Vorgesetzte duzt seine Mitarbeiter, sie nennen ihn „Chef“. Keller lehnt den einen oder anderen Schluck Whiskey, Cognac oder Bier im Dienst nicht ab, das tut aber seiner Glaubwürdigkeit keinen Abbruch. Seine Frau bindet ihm die Schuhe und bringt ihm den Kaffee ans Sofa. Die ganze Serie: Ein Alptraum an Rückwärtsgewandheit. Wer sich cineastisch hierhin zurückzieht, der hat mit dem politisch überkorrekten, angeblich modernen Fernsehen der Öffentlich-Rechtlichen Anstalten abgeschlossen.
Gut, dass beim ZDF keine Statistik mit den Einschaltzahlen zu finden ist, denn diese Abstimmung mit dem Mauszeiger dürfte der, den seine drei Assistenten ehrfürchtig „den Alten“ nennen, haushoch gewinnen. Tatsächlich liegt Erik Ode auf „Youtube“ bei den Klicks um Längen selbst gegenüber solchen Ermittlungs-Schlachtschiffen wie dem Münsteraner Buchhändler Wilsberg vorne, allenfalls Serien wie die „Rosenheim-Cops“ können mithalten. Obwohl alle 97 Folgen des Kommissars in schwarz-weiß, ohne Rücksicht auf eitel Sonnenschein und ohne Großaufnahmen aus der Gerichtsmedizin gedreht wurden – die Serie aus den 60er und 70er Jahren (das ZDF unterschlägt die Sechziger, warum nur – liegt diese Ära einen Schritt zu weit zurück?) fasziniert offenbar immer noch die Nation.
Aber vielleicht handelt es sich gar nicht um ein großzügiges Zugeständnis an die Krimifans der alten Schule, sondern um eine gut geplante PR-Aktion für das eigene Programm: Am Ende kann man das Thema “Retro-Filme“ endgültig abschließen und diese für immer in der Abstellkammer der Historie verschwinden lassen.
Dem Eindruck kann man sich auch bei einem Besuch der Website der ARD nicht erwehren, wo man eine gigantische Mediathek zum Thema „Retro“ geöffnet hat: Hier finden sich, ohne kritische Kommentierung, alle möglichen Filme zum Thema Nachkriegszeit und irgendwie hat das Ganze den Charme eines letzter Grußes in die Gruft, einem Griff an die Mütze am offenen Grabe einer vergangene Zeit. Das Projekt sei „Teil der ARD Archiv-Offensive: Seit dem 27. Oktober – dem Welttag des audiovisuellen Erbes, der seit 2005 jährlich von der UNESCO ausgerufen wird – stellen die ARD und das Deutsche Rundfunkarchiv schrittweise rund 40.000 zeitgeschichtlich relevante Videos ins Netz.“
Dem Bayerischen Rundfunk sind die historischen Streifen ein besonders kostbares Gut, hier wird nicht versucht, den Blick in die Vergangenheit umständlich zu (v)erklären, vielleicht weil man das in Bayern gar (noch) nicht muss.
BR Retro zeige „… Dokumente der Zeitgeschichte, vergessen geglaubte bayerische Traditionen, kurioses Brauchtum und historische Ereignisse aus Sport, Kultur, Gesellschaft und Politik. Unsere Schätze aus dem BR-Archiv bieten Einblicke in das Bayern von damals…“
Der NDR hingegen begründet das Projekt rein akademisch und wertet nicht:
„Was hat den Norden in den 50ern und 60ern geprägt? Wie haben die Norddeutschen gelebt, was haben sie erlebt? Und vor allem: Wie sah das alles aus? Mit NDR Retro öffnet der Norddeutsche Rundfunk sein Fernseh-Archiv und stellt zeit- und kulturhistorisch relevante Beiträge online zur Verfügung.“
Gnade der frühen Geburt
Damit niemand diese historischen Rückblicke missverstehen kann, hat der NDR eine umfangreiche FAQ (Neudeutsch für vielgestellte Fragen) – Seite eingebaut:
Und wer sich Sorgen macht, dass die Texte (in den Filmen) „…teilweise aus heutiger Sicht unangemessene Begriffe enthielten..“, dem wird gesagt: „Sprache ist in ständigem Wandel. Bei den Inhalten aus den ARD-Archiven handelt es sich um historisches Material, das vor mehreren Jahrzehnten produziert wurde. Die damaligen Überschriften und Beschreibungen wurden nach dem damals üblichen Sprachgebrauch formuliert, wirken heute aber häufig antiquiert oder sogar abwertend. Dennoch wurden Begriffe wie „Mädchen“ für junge, unverheiratete Frauen oder „Neger“ für schwarze Menschen bei ARD Retro nicht verändert, um das historische Material nicht zu verfälschen.“
Man ist dem NDR dankbar, dass er diese nachträgliche Säuberung der Texte daher gar nicht erst in Angriff nehmen musste. An anderer Stelle geht die Anstalt dem vordergründig sprachlichen Phänomen, dass „andere Sehgewohnheiten, andere Gesellschaftsrahmen“ haben, nach:
„Auch die Sehgewohnheiten und gesellschaftlichen Gepflogenheiten haben sich im Lauf der Jahrzehnte verändert: So mögen Einstellungen, Bildschnitte, Einschätzungen und auch die Sprache an einigen Stellen ungewohnt oder überholt erscheinen oder sogar irritieren – ermöglichen dadurch aber gleichzeitig einen originalgetreuen und lebendigen Blick auf das Leben in den 50er- und 60er-Jahren in Norddeutschland.“
Jedoch bleibt diese Erklärung oberflächlich, beleuchtet sie doch nicht die Frage, warum bei nicht wenigen, auch der jüngeren Zuschauer, beim Betrachten des Lebens anno dazumal einfach keine Schuldgefühle oder Unbehaglichkeit aufkommen wollen.
Die Skurrilität des Warnhinweises vor den irritierenden früheren „Einstellungen, Bildschnitten, Einschätzungen und Sprache“ wird besonders daran deutlich, dass das ZDF diese bei seinen Retro-Serien für nicht angebracht gehalten hat. Auch nicht beim grossen Häuptling Winnetou. – Mein Gott, ÖRR, wenn das der Wächterrat des Zeitgeists merkt…