Tichys Einblick
Wemma uns nochmal erinnern, dann ähm …

Also sprach die Bundeskanzlerin

In der Regierungsära Merkel hat sich vieles unvorhersehbar verändert. Konstant geblieben ist aber seit 2005 der Sprechstil der Bundeskanzlerin in freier Rede. Eine linguistische Analyse.

IMAGO / Political-Moments

Eine große Rednerin ist Angela Merkel nicht. Schon der rein stimmliche Ausdruck reißt niemanden mit: Sprechtempo und Tonhöhe bleiben über weite Strecken konstant, ihre Rede klingt dann wie eine „Verlautbarung“ und wirkt „monoton“. Eine glanzlose Darbietung sagt allerdings noch nichts über die sprachliche Qualität der Rede. Um sie zu beurteilen, sollte man nicht den veröffentlichten Redetext zugrunde legen; denn dieser wird nachträglich stilistisch „geglättet“ und in eine korrekte Schriftform mit Interpunktion gebracht. Man muss vielmehr vom O[riginal]-Ton ausgehen, einschließlich Pausen, Versprecher, Satzabbrüche, Wiederholungen und Ähs. Typisch für diesen O-Ton sind die frei und routiniert gesprochenen Äußerungen der Bundeskanzlerin auf einer Pressekonferenz (8. März 2021) zum 13. Integrationsgipfel.

„is unser is unser Land“

Bei der Integration geht es um das Verhältnis zwischen Deutschen und Migranten. Aber diese beiden Wörter gelten als politisch nicht korrekt und werden deshalb von der Kanzlerin umschrieben (s. u.). Der Ländername Deutschland tritt als unser Land auf; im O-Ton (der senkrechte Strich ǀ markiert eine kurze Pause):

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Die Summe aller ǀ Individuen is unser is unser Land.
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In „unser Land“ haben Deutsche und Migranten verschiedene Erwartungen und Interessen, was die Kanzlerin mit folgendem satzartigen Gebilde anspricht (g e s p e r r t = lautliche Dehnung):

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Wemma uns nochmal erinnern ǀ dann ä h m sind diese ǀ äh habm wir ja versucht sozusagen ǀ aus der Perspektive ǀ von jemandem der einwandert zuwandert ähm die verschiedenen Phasen uns anzuschaun ǀ und eigentlich müssten wir ǀ die ersten Phasen auch noch aus der Perspektive der ǀ Ankommensgesellschaft durchgehen und fragen was bedeutet das für diejenigen bei denen ǀ äh Zu- und Eingewanderte ankommen ǀ
aber ähm das ä h m bleibt sozusagen der Zukunft vorbehalten.
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Nach den Maßstäben der Schriftsprache ist diese Äußerung kein „ordentlicher“ Satz. Aber sprechsprachliche Kommunikation läuft anders ab als schriftsprachliche. In freier Rede gibt es nicht, wie beim Schreiben, einen Entwurf, den man bis zur Reinschrift bearbeiten kann. Der Redner muss fast gleichzeitig konzipieren, formulieren und artikulieren. Er weiß zu Beginn einer Äußerung oft noch nicht wie sie endet, und jedes sprachliche Zögern, jede Korrektur wird hörbar.
„Druckreifes“ Sprechen erfordert viel Übung und volle Konzentration, ansonsten kommt der Redefluss ins Stocken. Um das zu vermeiden, gibt es einige sprachliche „Tricks“, mit denen man Schwierigkeiten überbrückt und Zeit zum Überlegen gewinnt; die häufigsten sind;

● Wiederholung: „is unser is unser Land“
● Füllwörter: „eigentlich müssten wir“; „das … bleibt sozusagen der Zukunft vorbehalten“
● Wortvariation: „von jemandem der einwandert zuwandert
● Dehnung: a l s o
● gefüllte Pause: „aber ähm das ä h m bleibt …“

Helfen diese Tricks nicht, muss man die Formulierung abbrechen und neu starten: So korrigiert Merkel den durchgestrichenen Teilsatz „dann ähm sind diese“ nach einer kurzen Pause zu „äh habm wir ja versucht“.

Hesitationsphänomene

In der Sprachwissenschaft nennt man diese sprachlichen Verzögerungen beim Reden „Hesitationssphänomene“ (hesitation phenomena); sie machen, gemessen in Silben, durchschnittlich etwa ein Sechstel eines spontan gesprochenen Textes aus. Diesen Wert erreichen auch die Äußerungen von Angela Merkel auf der Pressekonferenz.

Aber könnte sie nicht „druckreif“ sprechen anstatt – wie Kritiker ihrer Rhetorik beanstanden – zu „schwurbeln“? Persönlich durchaus, aber als Bundeskanzlerin steht sie unter enormem Stress, und Stress mindert Leistungen, auch sprachliche, für welche eine starke Konzentration notwendig ist. Hinzukommt, dass Politiker in der Öffentlichkeit auch dann sprechen müssen, wenn sie inhaltlich nichts sagen können oder wollen. Der erkenntnistheoretische Leitsatz „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ (Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1921) gilt hier nicht, im Gegenteil: Ein Politiker, der auf Fragen schweigt oder nicht sofort antwortet, blamiert sich.

Im übrigen spielen rhetorische Fähigkeiten in der deutschen Politik heute nur eine geringe Rolle: Politiker müssen nicht „gut“ reden können und das „treffende“ Wort finden, sondern vor allem darauf achten, kein „falsches“ Wort zu verwenden. Das macht Angela Merkel auf der Pressekonferenz sehr bewusst, wie ihre Antwort auf die Frage zeigt, ob auf dem Integrationsgipfel der überproportionale Anteil von Migranten bei den Covid-19-Erkrankten diskutiert worden sei; sie spricht hier relativ schnell und ohne (leere) Pausen:

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Nein darüber haben wir konkret nicht gesprochen aber wir habm darüber gesprochen, dass ne offene Diskussion natürlich zu einer offenen Gesellschaft gehört und äh die Befindlichkeit und das Empfinden und auch die Situation derer die eine Einwanderungsgeschichte haben ähm genauso zur Sprache kommt wie ähm diejenigen natürlich die auch in der äh Mehrheitsgesellschaft äh leben …
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Die Tabuwörter Migranten und Deutsche werden hier vermieden und ersetzt durch die Umschreibungen „[diejenigen] die eine Einwanderungsgeschichte haben“ bzw. „die auch in der äh Mehrheitsgesellschaft äh leben“. Die von zwei Ähs gerahmte „Mehrheitsgesellschaft“ zeigt an, dass Merkel noch nach der richtigen Bezeichnung für die Deutschen sucht (vorher waren sie „diejenigen, bei denen ǀ äh Zu- und Eingewanderte ankommen“).

Äh(m) oder: Irgendwie geht es weiter

Häufigstes Hesitationssignal ist bei Angela Merkel ein unartikulierter offener Vokallaut, der wie äh klingt bzw. mit folgendem Lippenverschluss äh-m. Phonetisch kommt er in mehreren Varianten vor: normal: äh(m), gedehnt: ä h (m) oder – in Kleinschrift angezeigt – schwach artikuliert: äh(m) und oft verbunden mit dem vorausgehenden Konsonanten (wir-äh).

Die Äh(m)s strukturieren – neben leeren Pausen – die spontane Rede der Bundeskanzlerin. Typisch hierfür ist ihre vielzitierte Äußerung nach der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge am 15. September 2015, die im O-Ton lautete:

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Und ich muss ganz ehrlich sagen wenn wir jetzt anfangen äh uns noch entschuldigen zu müssen dafür ǀ dass wir-äh in Notsituationen ein freundliches Gesicht-äh zeigen ǀ dann-äh ist das nicht mein Land.
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Das Bundespresseamt machte daraus die kürzere schriftsprachliche Fassung: „Wenn wir uns jetzt noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Um das – unästhetische – Äh(m) sich abzugewöhnen, empfehlen Rhetoriktrainer, stattdessen einfach eine (leere) Pause zu machen. Kommunikativ könnte für den Hörer eine solche Pause aber auch bedeuten, dass die Äußerung beendet ist. Die mit Äh(m) gefüllte Pause zeigt hingegen an, dass der Sprecher das Wort behalten will und es irgendwie weitergeht.

Angela Merkel ist seit 2005 Bundeskanzlerin, und sechzehn Jahre lang ging es bei ihr immer irgendwie weiter, politisch und ä h m sprachlich. Der Rest wird Schweigen sein.


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