Die großen Geschichtsdenker der Antike, Platon, Aristoteles und Polybios sahen die Demokratie unweigerlich in der Verfallsform der Ochlokratie enden. Danach würden autoritäre Regime das Chaos wieder zu ordnen versuchen. So pessimistisch brauchen wir im Westen derzeit nicht zu sein: von einer Pöbelherrschaft sind wir doch noch weit entfernt.
In seinen berühmten Betrachtungen über die Demokratie in Amerika kam der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville zu dem gar nicht abwertend gemeinten Fazit, wonach Demokratie die „Herrschaft der Mittelmäßigen“ sei. Doch dieses Mittelmaß ist immer noch besser als wahnhafte Visionen, die ganze Völker in den Abgrund führen. Lieber biedere Sachwalter des Gegebenen, die mit Maß und auf mittleren Wegen zwischen den Extremen nach Balancen suchen.
Der schlechte Ruf der Mittelmäßigen baut sich mit der Abwertung alles Bürgerlichen auf, vor allem des „Spießbürgers“. Dabei hatten diese mit ihren Spießen jeden Abend das Gesindel aus der Stadt gedrängt, damit deren Einwohner ruhig schlafen konnten. Bürger kommt von Burg, von dieser Haltung, das Eigene zu bewahren, werden wir womöglich wieder lernen müssen.
Nicht jeder will ein Künstler sein oder ein besonders diverses Geschlecht haben. Der Normalbürger strebt nach Maß und Mitte. Zu visionären Politikern, die uns auch die weitere Zukunft weissagen, hat Helmut Schmidt alles Nötige gesagt: „Wer Visionen hat, solle zum Augenarzt gehen“.
Euphorie erzeugt dies nicht und so dürsten diejenigen, die keine kulturellen Prägungen als Erbe kennen, nach Sinnbestimmungen durch die Politik. Schon von Platon wird der Philosophenkönig beschworen, der neben dem Alltagsgeschäft weltanschauliche Führung anbietet. Doch Platon wusste, dass man Philosophen zu endlosen Verhandlungen, dem Erstellen von Haushaltsplänen und den Anbiederungen an die bunte Menge zwingen müsse. Philosophenkönige lassen sich in der Geschichte an einer Hand aufzählen, der Römische Kaiser Marc Aurel, Friedrich der Große vielleicht. Von Helmut Schmidt ist immerhin bekannt, dass er Marc Aurel verehrte und sich an dessen stoische “Selbstbetrachtungen“ orientierte.
Häufiger herrschten jene Aristokraten, die sich als Herrschaft der Besten verstanden, aber in der Regel zu Oligarchen absanken, denen es um ihren eigenen Vorteil ging. Heute wird oft eine Herrschaft der Fachleute beschworen. Sie wäre nicht demokratisch, auf Dauer ist sie auch nicht möglich. Die meisten Probleme sind so komplex, dass zu ihnen zahlreiche Fachleute aus den unterschiedlichsten Disziplinen gehört werden müssen. Da es „die Wissenschaft“ nicht gibt, sondern diese nur ein endloser Prozess der Suche sein kann, kommt es zwischen all ihren Stimmen am Ende doch auf das vorsichtige Urteil an.
Der mittelmäßige Demokrat erkennt seine Grenzen und lässt sich daher gerne beraten. Er entwickelt eine so genannte Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Odo Marquardt). Entscheiden müssen die vom Volk Gewählten und deshalb kommt alles auf ihr selbstständiges Denken und Urteilen an. Dieser Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen entspricht dem Bildungsideal der Aufklärung und der Humboldt’schen Universitäten. Es geht eben nicht um die Vielwisserei eines bloß quantitativen Lernens – wie in angelsächsisch geprägten Bachelorstudiengängen von heute. Ohne eigene Urteilsfähigkeit drohen wir in den Wissensfluten zu ertrinken. Das Leiden an der Orientierungslosigkeit wurde an unseren Hochschulen daher schon bald durch eine moralisierende Gesinnungsethik ersetzt. Statt um richtig oder falsch geht es in den Geistes- und Sozialwissenschaften allzu oft um Gut und Böse, statt ums Analysieren ums Moralisieren.
Zerstört wird auch die Fähigkeit zur Differenzierung, meist reicht es nur noch dazu, gegen etwas zu sein, gegen Klimaerwärmung und gegen Rechts. Durch ihre schiere Masse haben sie es geschafft, die dialektischen Diskurse von einst in Gesinnungsfronten zwischen Korrekten und Inkorrekten zu überführen. Die Vorherrschaft der Halbbildung hat zu einem Verlust der Dialektik geführt, bestärkt wird nur die Gesinnung, ohne diese im Einerseits-Andererseits in Frage zu stellen und sie darüber in neuen übergreifenden Urteilen aufzuheben. Halbbildung ist gefährlicher als Unbildung, denn diese greift noch auf Instinkt und Erfahrungswissen des alltäglichen Menschenverstandes zurück. Halbgebildete hantieren stattdessen nur mit angelesenen oder antrainierten Begriffen, deren Gegenbegriffe sie nur zu verdammen, aber nicht aufzuheben verstehen.
Die politisch Korrekten verfügen über keine großen Kompetenzen. Ihnen bleibt nichts als eine „Kompetenzsimulationskompetenz“. Die Geschickteren von ihnen können sich ohne Sachkunde beredt zu jedem Thema äußern, in gefälligen, allgemeinen und möglichst wenig angreifbaren Formulierungen.
Die Herrschaft des akademischen Prekariats
Dann glauben schließlich auch fast alle an dasselbe, z.B. an das Win-win eines entgrenzten Freihandels und an offene Grenzen. Als in China die Corona-Epidemie ausbrach, blieben dementsprechend die Grenzen offen, die Pandemie nahm ihren Lauf. Trotz der sich seit Jahrzehnten im überbevölkerten Afrika aufbauenden Migrationswelle sahen sie keine Notwendigkeit für einen angemessenen Europäischen Grenzschutz. Die Islamisierung im Nahen Osten diente ihnen nicht als Warnung. Längst war der Regenbogen der Völker und Kulturen zu ihrem Wahrzeichen geworden.
Ministerien und Stadtverwaltungen werden heute unablässig aufgestockt, um möglichst großen Teilen der eigenen Anhängerschaft Quartier zu geben. Der mit einer Milliarden Euro an Bundesmitteln abgesicherte „Kampf gegen rechts“ versorgt eine neue Forschergeneration mit Auftragsforschung für bestellte Ergebnisse.
Die etwa 10.000 verschiedenen Studiengänge in Deutschland bieten oft keine beruflichen Zuordnungen mehr an. Es wurden Studiengänge eingerichtet, die gesinnungstüchtig, aber nicht nützlich sind. In Deutschland gibt es nur 18 Professuren für Pflegewissenschaften und 271 Lehrstühle für Genderstudies. Diese müssen sich rechtfertigen und erfinden immer neue Probleme. Die Dauerpropaganda in den Medien dient dazu, dass die mittelständischen Arbeitnehmer, Handwerker und Verkäuferinnen, dies alles zu bezahlen bereit sind.
Erreichen sie sogar ein Mandat, so sind sie vor allem mit der Verlängerung dieser Positionen beschäftigt, sie haben keine Alternativen. Es gilt den Garten des Wahlkreises zu bestellen. Dabei geht es nicht einmal um Macht, die der normale Abgeordnete außerhalb seiner Bürogemeinschaft nicht hat, sondern nur um die Rettung ihrer prekären Existenz.
Die Option für populäre Forderungen etwa nach immer mehr Partizipation bedingt den Mangel an Voraussicht und Prävention. Trotz aller Warnungen hat sich die Politik nicht auf Pandemien vorbereitet. Eine der wichtigsten Aufgaben politischer Führung wäre es aber, Gefahren zu antizipieren. Zwar hatte die Bundesregierung (vgl. Bundesdrucksache 1712051) bereits nach Sars Covid-1 2012 vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz eine Pandemie simulieren lassen. Das Ergebnis lag der Bundesregierung 2013 vor und beschreibt exakt die jetzige Pandemie und die Maßnahmen, die gegen sie zu treffen gewesen wären. Wer jedoch stolz drauf ist, nur „auf Sicht zu fahren“ (Angela Merkel), kann über diesem Mangel an Voraussicht auch keine Vorsicht walten lassen.
Die repräsentative Demokratie gründet auf dem Glauben, dass sich aus den demokratischen Wahlen, Gremien und Parlamenten mit der Zeit die besten Gedanken und Personen herausmendeln. Stattdessen mendeln sich häufig diejenigen heraus, die mangels bürgerlicher Karrieren und oft auch mangels Familie die meiste Zeit und das meiste Sitzfleisch haben. Mir sagte ein Stadtverordneter mal: es gewinnt derjenige die Abstimmung, der die meisten Leute kennt. Diese Form der Ausdauer ist mit „Vernetzung“ unzureichend beschrieben, sie grenzt vielmehr an ein neues Oligarchentum des Prekariats. Seit Jahren sind Rücktritte, ja selbst die gegenseitige Kritik in den Parlamenten aus der Mode gekommen. Man schont sich gegenseitig, um gemeinsam die Pfründe zu verzehren.
Inhalte werden darüber zur Nebensache, der bloße Machterhalt zum Selbstzweck. Wichtigste Lektüre sind die Ergebnisse der Meinungsforschung, nach der die Bundeskanzlerin ihre Inhalte auszurichten pflegt. Je weniger eigene Inhalte und Standpunkte stören, desto leichter lassen sich diese ändern.
Legitimation erfolgt nicht mehr über Kompetenz und Erfolg, sondern über eine ins Globale oder zumindest ins Europäische erhobene Moral. Eigeninteressen stehen beiseite, denn es geht um die „Menschheit“, die es im politischen Sinne überhaupt nicht gibt. Demgegenüber steht ein Verantwortungsethiker, der die Folgen seines Handelns immer mitbedenkt, auf verlorenem Posten.
Nur 0,8 Prozent der Menschen auf der Welt sind Deutsche und dennoch halten die Gesinnungsethiker uns für die legitimen moralischen Exportweltmeister. Die eigene Selbstbehauptung muss demgegenüber zurückstehen. Dieses ja evolutionär unwahrscheinliche Verhalten erklärt sich aus dem Eigeninteresse der unzähligen Integrations- und Gleichstellungsbeauftragten für alle Geschlechter und Kulturen der Welt.
Mittels der höheren globalistischen Moral wird ein plebiszitärer Druck auf die Politik ausgeübt, so dass in der „Willkommenskultur“ 2015 nicht einmal zwischen Verfolgten und ihren Verfolgern unterschieden wurde, Politiker waren zu „Getriebenen“ einer Stimmung geworden.
Herrschaft der Dummheit?
Aber es geht immer noch schlimmer. Die Herrschaft der Prekarier könnte in eine offene Herrschaft der Dummheit umschlagen, sobald die Zeit der radikalen Vereinfacher gekommen ist, der „terribles simplificateurs“, etwas variiert: der schrecklichen Vereindeutiger. Schon früh waren in der Moderne Ideologien aufgekommen, die alles aus einer Wurzel erklären, dazu zählt auch der naturwissenschaftliche Reduktionismus, der alles Leben aus Genen, Gehirnvorgängen oder Hormonen erklärt. Am schlimmsten ist eine Übertragung reduktionistischer Naturwissenschaften in die Politik, wie beim Sozialdarwinismus, beim dialektischen Materialismus oder heute bei der Inanspruchnahme „der Wissenschaft“, so als ob es nur eine gäbe.
Die trotz aller Komplexität fortdauernden Links-Rechts-Fronten erklärt die Psychologie aus dem Stammesdenken, aus den tief in unseren Genen verwurzelten Ängsten, aus der Angst, den Schutz unseres Stammes zu verlieren, wenn wir die Meinung und damit den Stamm ändern. Für viele sei der Preis, den sie für eine falsche Meinung zahlen, kleiner als die Gefahr, in ihren sozialen Gruppen isoliert zu werden, wenn sie die Meinung wechseln. Wir haben nicht Meinungen, wir sind unsere Meinungen.
Die sprachlichen Ausgrenzungen bestimmter Probleme rächen sich in deren Tabuisierung. Wie schon am Ende des Sowjetsystems trägt eine verordnete Kunstsprache zur Realitätsverleugnung bei, die den Wettbewerb um das bessere Argument und damit die Diskurs- und Krisenfähigkeit der offenen Gesellschaft beeinträchtigt.
Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld sehen im Verfall der politischen Kultur Deutschlands eine Schwächung in der Bewältigung von Krisen. Risiken seien nicht bloße soziale Konstrukte, wie postmoderne Ideologie in ihrer „unernsten, antirealistischen“ Sicht meinen, sondern Realität.
In der Corona-Krise hätten Staat und Gesellschaft bei der Krisenbewältigung versagt. Es sei keine differenzierte und rationale Auseinandersetzung mit Risiken möglich gewesen. Es herrsche eine „Unkultur“ vor, in der viele Teilnehmer der öffentlichen Diskussion sämtliche Maßnahmen der Regierung bedingungslos befürworteten und Kritiker grundsätzlich als „Spinner“ abgetan worden wären.
Die Reaktion von Politik und Gesellschaft auf die Corona-Krise sei von „populistischen Aufwallungen“ geprägt gewesen: Differenzierte Positionen, die neben dem Gesundheitsschutz auch die ökonomische, soziale und kulturelle Vitalität der Gesamtgesellschaft im Auge hatten, seien diffamiert worden. Die Weigerung, eine größere Vielfalt von Positionen in die Diskussion einzubeziehen, habe verhindert, dass eine allgemein zustimmungsfähige Strategie formuliert werden konnte.
Rückkehr zu Maß und Mitte
Die Lernfähigkeit, jene erkenntnistheoretische Stärke der Demokratie, ist gefährdet. Die in Ansprachen angestimmte Forderung, aus Fehlern zu lernen und „keine gute Krise ungenutzt“ zu lassen, wirken angesichts der anhaltenden Denkverbote im öffentlichen Diskurs zu optimistisch.
Nur mit einer entwickelten politischen Urteilskraft – so Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld – könnten Länder die Herausforderungen von Krisenzeiten bestehen. Weder in der Wissenschaft noch in der Demokratie dürfte es länger Denk- und Diskussionsverbote geben. Das Zerrbild einer geeinten, alle Kontroversen hinter sich lassenden Wissenschaft, habe mit wissenschaftlichem Denken nichts zu tun. Wissenschaftlicher Fortschritt werde durch Kontroversen vorangetrieben.
Die Rückeroberung der Hochschulen für freies Denken wäre ein großer Schritt auf dem neuen Marsch durch die Institutionen. Aufgrund der dortigen Dominanz des akademischen Prekariats ist dies auf lange Sicht nicht zu erwarten. Selbstdenkende jüngere Leute lernen längst lieber über Podcasts und andere alternative Informationsquellen des Internets. In den Weiten des Netzes sind viele wiederum ohne eigenes Urteilsvermögen vollends verloren.
In jedem Fall müsste ein neues Verhältnis zwischen den Geistes, Sozial- und Naturwissenschaften aufgebaut und darüber eine erkenntnistheoretische Demut praktiziert werden, die sich eingesteht, dass wir auch ohne letzte Akteure, Ursachen und Gewissheiten leben und uns mit unseren je vorläufigen und einander ergänzenden Erkenntnissen begnügen müssen.
Sodann bräuchten wir mehr Politiker wie Sahra Wagenknecht, die selber denken und sich nicht in die Denkgefängnisse von Links und Rechts einsperren lassen. Auf diese Weise fänden sich auch mittlere Wege im größten Konflikt unserer Zeit, dem zwischen Globalisten und Protektionisten. Auch hier ist das mittelmäßige Sowohl-als auch gefragt.
Dazu gehört auch, dass Menschen mit beruflicher Ausbildung, die sich in der Corona-Pandemie oft als wichtiger als alle Sprach- und Identitätswächter erwiesen haben, eine wesentlich größere Bedeutung erhalten. Diese größere Wertschätzung lokaler und sozialer Stabilität bedeutet keine Entglobalisierung, sondern eine Deglobalisierung, die mit dem Kunstwort Glokalisierung trefflich umschrieben wird, einer neuen Mitte zwischen Extremen selbstauflösender Offenheit und ausgrenzender Abgeschlossenheit.
Wenn wir unsere Freiheit und unseren Wohlstand erhalten wollen, müssen wir weg von der Art und Weise, wie wir heute über gesellschaftliche Probleme sprechen, müssen wir wieder lernen, mit Problemen sachbasiert und vernünftig umzugehen.
Ich glaube weder an neue Menschen noch an eine ganz neue Moral oder ein ganz neues Denken. Aber die Wiederbegründung, eine Renaissance des soliden bürgerlichen Denkens und Handeln sollte in Erinnerung an deren Erfolge in der Nachkriegszeit möglich sein.
Prof. Dr. Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Veröffentlichungen unter anderem: „Der Westen und die neue Weltordnung“, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2017; „Der Westen und sein Naher Osten. Vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation“, Olzog edition, Reinbek 2015