Man muss wahrlich nicht Verfassungsrichter oder Staatsrechtler sein, um in der Europäischen Kommission und nicht zuletzt dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein mächtiges Interesse an der langfristigen Etablierung einer de-facto-Staatlichkeit der EU und der eindeutigen Unterordnung der Nationalstaaten auszumachen. Andreas Voßkuhle hat das Naheliegende und Offensichtliche nun ausgesprochen, als er vor einigen Tagen über diese „tiefere Motivation“ hinter dem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Deutschland sprach und davon, dass diese „auf kaltem Wege“ in Europa „den Bundesstaat“ einführen wolle.
Die empörten Reaktionen in Brüssel und Berlin über den ehemaligen deutschen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten zeigen, dass er da ganz offensichtlich an einen wunden Punkt rührt. Die getroffenen Hunde bellen nun. Für besondere Empörung sorgt, dass Voßkuhle von „kollusivem Zusammenwirken“ zwischen den EU-Institutionen und dem EuGH sprach. Das ist der juristische Fachbegriff für ein unerlaubtes Zusammenwirken.
Das konkrete Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland übrigens ist allein deswegen fragwürdig, weil überhaupt nicht ersichtlich ist, was dabei herauskommen soll. Es richtet sich gegen die Bundesrepublik Deutschland als Ganzes. Aber moniert wird nicht das Handeln der Bundesregierung, sondern ein Gerichtsurteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Letzteres ist bekanntlich – gemäß dem Prinzip der Gewaltenteilung – unabhängig von der Bundesregierung. Was die Kommission im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens eigentlich von der Bundesregierung erwartet, bleibt unklar. Soll sie das Gericht abstrafen? Das kann sie gar nicht – Gott sei Dank. Soll das Gericht sein eigenes Urteil zurücknehmen? Undenkbar. Der eigentliche Zweck scheint darum im Verfahren beziehungsweise dessen Öfflichtkeitswirkung selbst zu liegen: ein Rüffel gegen das deutsche Verfassungsgericht.
Wenn ein Gericht nicht mehr nur neutraler Wächter der Rechtsordnung ist, sondern derart offensichtlich zum Treiber eines politischen Ziels wird, ist es nicht verwunderlich und auch nicht verwerflich, wenn es dafür mit politischen und nicht mehr nur juristischen Argumenten kritisiert wird.
Aber genau das wollen sich der EuGH und die treibenden Kräfte auf ihrem Weg zum europäischen Bundesstaat ersparen. Dieser Weg soll politischer Kritik möglichst enthoben werden, indem er zu einer Angelegenheit des Europäischen Rechts erklärt wird. So ist die scharfe Zurückweisung Voßkuhles durch den früheren EuGH-Richter Jose Luis da Cruz Vilaca einzuordnen, der Voßkuhle vorwarf, seine „Antipathie” gegen den EuGH beruhe auf „keinerlei juristischen Argumenten”, sondern nur auf auf bloßen „Vermutungen über mutmaßliche geheime Absichten” des Gerichtshofes. Voßkuhle wird also auch noch in die Nähe von Verschwörungstheorien gerückt.
Das Motiv der vereinten Empörung über Voßkuhle ist klar: Widerstand gegen den unerklärten aber unübersehbaren Anspruch des EuGH und den politischen Zug zum europäischen Bundesstaat soll als unangemessen, ja fast als unappetitlich abgestempelt werden. Das Muster kennt man von anderen Politikbereichen.