Tichys Einblick
Dirigent der alten Schule

Riccardo Muti: „Mit Metoo würden Da Ponte und Mozart im Gefängnis landen“

Ein Maestro alter Schule spricht mit der italienischen Zeitung Corriere Della Sera. In diesen Tagen, wo jeder – bis hin zum Papst in Rom – noch den letzten Kompromiss mit dem Zeitgeist suchen zu müssen glaubt, rechnet Muti mit selten gewordener Offenheit mit Diversity, Lockdown und Metoo ab.

IMAGO / Italy Photo Press

Riccardo Muti trauert der Ernsthaftigkeit vergangener Epochen nach, wie es vielleicht nur ein kulturbeflissener Süditaliener kann. In Italien, zumal im Mezzogiorno geht mit der Kulturpflege fast notwendig ein großes Maß an Geschichts- und Traditionsbewusstsein einher. Und so erinnert sich Muti gerne der Zeiten von Kaiser Friedrich II. (1194–1250), der zu Lebzeiten als das »Staunen der Welt« galt. Am Brückentor von Capua ließ der Staufer den lateinischen Spruch »Intrent securi qui quaerunt vivere puri« anbringen: »Diejenigen mögen sicher eintreten, die rein leben wollen.« Für Muti wäre das die einzige Einwanderungspolitik, die er für gut befände.

1941 in Neapel als Sohn eines Arztes geboren, wuchs Muti im apulischen Molfetta auf, also im einstigen Herrschaftsbereich Friedrichs II. und unweit des von diesem errichteten Castel del Monte. Ein Ausflug zu der emblematischen achteckigen Festung im Jahr 1946 gehört zu den frühesten Erinnerungen Mutis. Im Gespräch mit Aldo Cazzullo vom Corriere della Sera bezeichnet sich Muti – dem äußeren Anschein zum Trotz – als durchaus erschöpft vom Leben. Warum das so sei? »Weil ich mich nicht mehr in dieser Welt wiedererkenne. Und da ich nicht erwarten kann, dass sich die Welt an mich anpasst, bevorzuge ich es, mich wegzuscheren. Im Falstaff heißt es: ›Alles kommt herab.‹« Doch was Muti beklagt, ist nicht die Abschaffung der gymnasialen Ohrfeigen, sondern das Verschwinden der Ernsthaftigkeit. Inzwischen hat er seinen Alterssitz mit einem landestypischen Trullo in der Nähe des Kastells erworben. In diesem Sommer hat er Verdis Aida in der Arena di Verona dirigiert, im August folgt dann Beethoven in Salzburg. Am 28. Juli wird Muti sein 80. Lebensjahr beschließen, ermattet scheint er nicht.

»Eine Welt, die alle Prinzipien in ihr Gegenteil verkehrt«

Natürlich hat der berühmte Dirigent auch eine Meinung zu seinem eigenen Metier, und die fällt nicht eben günstig aus. Er beginnt seine Philippika dazu bei seinen Kollegen, denen er mangelnden Ernst, zu viel Gestikulieren und Geltungssucht vorwirft (er nennt keine Namen). Es gibt zu wenige vernünftige Proben für Orchester, Sänger und Chor und zu viele für eine oft eigenwillige, das Werk störende, dabei äußerst kostenintensive Regie. Zudem bleiben die Sänger am Ende zu oft ohne Anleitung – eigentlich die Kernaufgabe eines jeden Opernregisseurs. Ein Reaktionär will Muti deshalb noch lange nicht sein, weiß Autoritäten wie Arnold Schönberg auf seiner Seite. Doch er ist müde, des Lebens müde, wie er halb im Scherz wiederholt. Denn zu dieser Welt, wie sie heute existiert, will er nicht mehr gehören, einer Welt, die »alle Prinzipien der Kultur und der künstlerischen Ethik« in ihr Gegenteil verkehrt.

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Aber es kommt noch schlimmer. Wenn Muti vom letzten Jahr erzählt, hat man den Eindruck, einen Leser von Giorgio Agamben vor sich zu haben. Der Interviewer fragt nach dem Leben unter dem italienischen Lockdown. Muti hat vor allem ein musikalisches Werk studiert, das er bisher nie zu dirigieren wagte, Beethovens große Missa solemnis. Doch dadurch wurde der Schrecken dieser Zeit für ihn nur zeitweise gemildert. Es ist auch ein allgemeines Zeitbild, das der Dirigent entwirft: Restaurant-Besucher, die auf ihre Smartphones starren, anstatt miteinander zu reden. Durch den Lockdown sei alles noch furchtbarer geworden: »Die Entmenschlichung ist noch tiefer geworden. Der Mangel an menschlichen Beziehungen ist erschreckend.«

Auch das italienische Fernsehen habe die sich bietende Gelegenheit für mehr Bildungsprogramme bis auf wenige Ausnahmen (»einige schöne Dokumentationen«) nicht genutzt, stattdessen sei man »von Virologen, von selbsternannten ›Forschern‹« überrannt worden. Das italienische »scienziato« meint nicht den bloßen Experten, der den Buchstaben einer bestimmten Disziplin nachbetet, sondern einen Forscher, der Größeres im Blick hat. Als einen großen Forscher lässt Muti zum Beispiel Guglielmo Marconi gelten, der für seine Arbeiten zur Funktelegraphie (zusammen mit Ferdinand Braun) den Nobelpreis für Physik von 1909 erhielt.

Der Dirigent versteht nicht, warum man nicht endlich die historischen Theater des Landes öffnen kann und der musikalischen Jugend so einen Raum gäbe, um sich zu entwickeln. Daneben seien auch noch etwa 100 bestehende Orchester und Ensembles in Italien außer Lohn und Brot. Die italienische Musiktradition müsse als »Quelle von Bildung und Kultur« erhalten bleiben.

Gegen »Diversity« – gegen Diskriminierung

Muti sieht sich selbst weder als links noch rechts an, war früher mit vielen Linken befreundet, wurde aber später von anderen als rechts der Mitte eingeordnet, da er Begriffe wie »patria« (Vaterland) benutzte und nichts dabei fand, die brüderliche Nationalhymne der Italiener zu dirigieren. Was der Süditaliener aber an der heutigen Politik sehr merkwürdig findet, das sind die neuen Hashtag-Bewegungen wie #MeToo oder auch Black Lives Matter. Unter ihnen hätten Mozart und Da Ponte – die Autoren des Don Giovanni, den man auch als Don Juan kennt – mit Sicherheit auf der Galeere geendet, so Muti. Dass die Musik Bachs, Beethovens oder Schuberts »kolonialistisch« sein soll, wie es heute an der Universität Oxford und in den USA heißt, kann er schlichtweg nicht verstehen. »Schubert war so ein sanfter Mensch…«, wendet er mit leisem Spott ein.

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Muti kann es nur merkwürdig finden, »sehr merkwürdig« sogar, dass es beispielsweise in einer musikalischen Produktion einen Ausgleich zwischen verschiedenen Kollektiven – »Männern und Frauen, verschiedenen Hautfarben, Transgender-Personen« – geben müsse, damit »alle sozialen, ethnischen und genetischen Fragen« angemessen repräsentiert sind. Der Musiker meint dazu stoisch: »Die Auswahl muss auf der Grundlage von Wert und Talent getroffen werden.« Und zwar ohne Diskriminierungen, weder negativ noch positiv.

Vielleicht ist etwas Wohlwollen gegenüber der fremden Kultur dabei, wenn Muti davon erzählt, dass einst ein Kinderchor in Nairobi den »Va pensiero«-Chor aus Verdis Oper Nabucco mit einer »absolut perfekten Aussprache« gesungen habe. Dagegen kommt er sich heute in Italien oft so vor, als spräche er zu Gehörlosen. Er macht ein Wortspiel dazu: »Muti che parla ai sordi…« – Muti, der Stumme, der zu den Tauben spricht. Er spricht offenbar von einem europäischen Niedergang, der vielleicht selbstgewählt ist, vielleicht auch erlitten wird. Doch nach Muti ist es nicht mangelnder Wille, die die Jüngeren behindert, sondern eine »atavistisch« hervorbrechende Ignoranz im Lande so großer Musiker wie Palestrina und Monteverdi.

Sein letzter Wunsch: »die absolute Stille«

Irgendwo hier fällt auch dem Interviewer auf, dass Muti sich für einen vom Leben Verdrossenen noch ganz schön rührig zeigt. Mutis Antwort ist einfach und direkt: »Man arbeitet nicht für den äußeren Erfolg, die Länge des Applauses und die Menge der Artikel, sondern weil man versteht, dass unser Beruf eine Mission ist.«

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Was hat sich außerdem zu schnell verändert an unserem Leben? Der Katholik Muti sagt, unser Verhältnis zum Tod. Er habe jedenfalls keine Angst vor ihm und erklärt das wohl auch aus einem früh erworbenen, selbstverständlichen Umgang mit dem Fortgehen: »Als Kinder sind wir abends immer auf den Friedhof gegangen, um die Irrlichter zu sehen.« Er erzählt von Aufbahrungen zu Hause und Klageweibern, die von den Verdiensten des Toten erzählen. »Eine ebenso einfache wie phantastische Welt. Deshalb sage ich Ihnen, dass ich einer anderen Zeit angehöre. Heute schreitet die Welt so schnell voran, sie überwältigt alles, selbst diese einfachen Dinge, die von einer tiefen Menschlichkeit sind…«

Für sein eigenes Begräbnis hat Muti sich schon heute jeden Applaus verbeten, wie er in Italien für Stars und Berühmtheiten üblich geworden ist. Er wünscht sich stattdessen die »schreckenerregende Stille« von einst zurück, als »jeder in seiner wahren oder falschen Trauer eingeschlossen« war. Auch Trauermusiken milderten diese Stille nur im Fall der Wohlhabenderen. »Wenn ich an der Reihe bin, wünsche ich mir die absolute Stille. Wenn doch jemand applaudieren sollte, schwöre ich, dass ich wieder aufstehen werde, um ihn bei Nacht, in den intimsten Momenten zu stören.« Das möge ihm – und anderen – erspart bleiben.

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