Tichys Einblick
Meinungsfreiheit muss gelten

Lagebericht zur Demokratie: „Mit brennender Sorge …“

Wir erleben zunehmend, dass die Demokratie ins Wanken gerät. Einige sprechen von einer Abschaffung durch die Hintertür. Obgleich ich so weit nicht gehen möchte, so sehe ich doch auch berechtigte Gründe zur (brennenden) Sorge.

„Mit brennender Sorge“ – Diesen Titel hat Papst Pius XI. seiner Enzyklika zur Lage der römisch-katholischen Kirche im dritten Reich gegeben – und damit ein Novum geschaffen: Eine Enzyklika, nicht mit Lateinischem, sondern mit deutschem Titel. Mit diesem 1937 veröffentlichten päpstlichen Schreiben warnte das Kirchenoberhaupt vor den Entwicklungen in Hitler-Deutschland und rief die Katholiken auf, diesen kritisch zu begegnen.

Zugegeben: Unsere heutige Situation ist selbstverständlich nicht mit dem Unrechtsregime des Nationalsozialismus zu vergleichen. Ein solcher Versuch wäre nicht nur zynisch, sondern unverschämter Hohn gegenüber den unzähligen Opfern der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft.

Selbstverständlich gelten in unserem Land Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das Staatsgebilde basiert auf einer diffizilen Ausbalancierung von Macht und Kontrolle, von Herrschen und Herrschaftsbeschränkung.

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Und dennoch: Wir erleben zunehmend, dass die Demokratie ins Wanken gerät. Einige sprechen von einer Abschaffung durch die Hintertür. Obgleich ich so weit nicht gehen möchte, so sehe ich doch auch berechtigte Gründe zur (brennenden) Sorge.

Einen solchen Grund lieferte jüngst das renommierte Institut für Demoskopie Allensbach. Seit 1953 stellt das Institut den Bundesbürgern immer wieder eine Frage: „Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?“

Die Antwort der jüngsten Umfrage des Instituts, die vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde, schockiert und ängstigt mich. 45 Prozent der Befragten bejahten die Möglichkeit, die eigene Meinung frei äußern zu können. Fast ebenso viele – nämlich rund 44 Prozent – verneinten diese.

Die sogenannte, hochgelobte „political correctness“ schlägt mit voller Härte zu: Meinungen werden als Unsagbares diskreditiert, eine Minderheit spielt sich zur Diskurs-Polizei auf. Als Argument wird vorgebracht: Man wolle ohnehin nur solche Positionen als „politisch inkorrekt“ brandmarken, die ohnehin gesellschaftlich nicht vertretbar seien, beispielsweise, weil sie rassistisch oder frauenfeindlich sind.

Und genau hier liegt der Ursprung des Problems: Selbstverständlich sollten rassistische Parolen nicht salonfähig sein. Und zugleich gilt: Sie müsse trotzdem ausgesprochen werden können, damit man sich mit ihnen auseinandersetzen kann. Hierin liegt das Grundwesen einer jeden Demokratie: Spannungen, Unterschiedlichkeiten, Pluralität – eben gerade auch Meinungspluralität – aushalten, tolerieren.

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Das entbindet selbstredend nicht von der Pflicht, die eigene Meinung zu vertreten und im friedlichen Diskurs unaufgeregt aber bestimmt klarzumachen, dass und warum ein Argument aus diesen und jenen Gründen, beispielsweise wegen seiner rassistischen Motivation, nicht valide ist oder tragbar.

Der Unterscheid besteht im Stil, in der Konnotation: Wer im Vorhinein Meinungen, Argumente, Begriffe verbieten will, der schickt sich an, Diskurshoheit auszuüben, über das Sagbare zu bestimmen, ja regelrecht zu selektieren – hier das noch vertretbare, da die Gebrandmarkten.

Diese künstliche Verengung von Diskursräumen ist Gift für jede Demokratie. Nicht zuletzt, weil sich immer die Frage stellt, die einst der Sittenrichter und Satiriker Juvenal im alten Rom stellte: Sed quis custodiet ipsos custodes? Wer aber soll die Wächter selbst bewachen? Die Fragen stellen sich schon viel früher: Welcher Toleranz-Begriff liegt dem vermeintlich unantastbaren politisch Korrekten zugrunde?

Woher nehmen sie die Autorität, Diskurse zu diktieren? Und überhaupt: Wie entscheidet sich, was noch politisch korrekt und was politisch inkorrekt ist? Erleben wir hier nicht vielmehr das Paradebeispiel einer willkürlicher, opportunen und verlogenen Hinterzimmer-Demokratie – ja in letzter Instanz: Die Abschaffung der Freiheit?

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Ein konkretes Beispiels, das Allensbach untersucht hat, liefert ein eindeutiges Lagebild: Auf die Frage, ob man in persönlichen Gesprächen, um niemanden zu diskriminieren oder zu beleidigen, neben der männlichen immer auch die weibliche Form verwenden solle, finden die Befragten eine klare Antwort: 71 Prozent lehnen das „Gendern“ ab, nur 19 Prozent befürworten es.

Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk scheint die Diskussion dabei längst ausgefochten: Ungefragt stellen mehrere Moderatoren des heute-journals auf die „gendergerechte Sprache“ um, die Social-Media-Kanäle der Öffentlich-Rechtlichen verwenden ohnehin schon das sogenannte Gender-Sternchen.

In meinen Augen zeigt sich in diesem Vorgehen besonders deutlich, wie der Versuch unternommen wird, Meinungsvielfalt – die sich ja gerade auch in Sprache manifestiert – einzuschränken und im Sinne politisch linker Strömungen zu lenken.

Wie fatal die Auswirklungen falsch verstandener Toleranz sein können, zeigt sich auch im Hinblick auf das Thema Islam. In der Allensbach-Umfrage für Juni 2021 geben 59 Prozent der Befragten an, es sei heutzutage „heikel“ über das Thema Islam zu sprechen.

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Das ist sie also, die viel gepriesene Toleranz der Religionsfreiheit. Eine Toleranz, die einem das Sprechen über ein „heikles“ Thema verbietet kann – beim besten Willen – nicht tolerant sein.

Besonders interessant ist dieser Aspekt der Allensbach-Umfrage, wenn man ihn mit einer kürzlich durchgeführten Umfrage desselben Instituts kontrastiert, die die ZEIT veröffentlichte: Hier gaben 65 Prozent der Befragten an, dass es richtig sei, dass für Muslime dasselbe Recht auf freie Religionsausübung gelte wie für Christen.

Zugleich gaben 28 Prozent der Deutschen an, den Islam insgesamt als Bedrohung wahrzunehmen, weitere 63 Prozent der befragten Bundesbürger halten zumindest einzelne Gruppierungen innerhalb des Islams für gefährlich.

Diese Ergebnisse zeigen klar: Wir müssen über den Islam sprechen. Wir müssen dies aber auch unvoreingenommen und differenziert tun. Islam ist eben nicht gleichzusetzen mit radikal-extremistischem Islam. Es ist wichtig, diese Unterscheidung zu machen. Diejenigen, die Selbstmordanschläge verüben, als Dschihad Menschen abschlachten, foltern und verstümmeln und zugleich Frauenrechte mit Füßen treten, sind nicht gelichzusetzen mit friedliebenden Muslimen, die sich auch hierzulande hervorragend in die Gesellschaft integriert haben.

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Und dennoch: Ein Spaltkeil bleibt – das Kopftuch. Mehr als die Hälfte der Bundesbürger (53 Prozent) fordert ein Kopftuchverbot, mindestens für Mädchen unter 14 Jahren. Ein Vollverschleierungsverbot unterstützen sogar drei von vier Befragten.

Einmal mehr frage ich: Wieso zögern Maßgebenden in der Politik noch weiter? Haben sie etwa Angst, dass auch hier die Rassismus-Keule wieder mit großer Macht geschwungen wird? Ist es dann also besser, lieber einmal nichts zu unternehmen?

Ich finde dieses Drückebergertum falsch, ja fatal. Die Werte und Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie deren konkrete Ausgestaltung zeigen sich eben gerade auch an solchen Fragen.

Natürlich genießen auch Muslime den Schutz der Religionsfreiheit unseres Grundgesetzes. Ob dieser Schutz jedoch so weit reicht, dass Frauen dazu gezwungen werden, ein Symbol der Unterdrückung, ein Überbleibsel des grausamen Scharia-Rechts auf ihrem Körper zu tragen, wage ich zu bezweifeln.

Eines zeigen diese Beispiele klar: Unsere Demokratie muss zurück zu einer gelebten Streitkultur. Political correctness ist hierbei keineswegs förderlich, sondern vielmehr schädlich, da sie zu einer cancel culture ungeahnten Ausmaßes führen kann, den freiheitlichen Diskurs verzerrt und einengt und somit schlussendlich die demokratischen Prozesse des Grundgesetzes konterkariert.

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Man kann diese Entwicklungen mit brennender Sorge zur Kenntnis nehmen – oder ihnen mit brennendem Eifer entgegentreten. Man kann diesen Lagebericht aus dem Herzen der freiheitlichen Demokratie als vermeintliches Zeugnis eines Scheiterns werten oder aber als Ansporn, die Lust am demokratischen Meinungsstreit neu zu entfachen.

Eines ist in meinen Augen völlig klar: Demokratie braucht Streit. Demokratie braucht den freien Diskurs und die Pluralität von Meinungen. Ein ungehemmter demokratischer Prozess wird die Grenzen des Sagbaren von selbst finden, wird nicht durch das Diktat der Minderheit, sondern durch das – im besten Sinne demokratische – Ausbalancieren zwischen Minderheitsmeinungen und Mehrheitsmeinung selbst Grenzen setzen und definieren.

Ich plädiere für Vertrauen in die Demokratie, für mehr Demokratie – auch gegen Widerstände, denn die Demokratie behauptet sich gerade dann, wenn sie am meisten angegriffen wird und geht gerade aus schweren Stunden gestärkt hervor

Mein Plädoyer: Mutig sein. Demokratie wagen. Freiheiten (heraus)nehmen, nicht nehmen lassen.

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