Der frühere Vorsitzende der Bürgerplattform (PO) wird gern mal vom kommerziellen Privatsender TVN24 eingeladen, um eine unmissverständliche Botschaft auszusenden: „Ich, Donald Tusk, bin grundsätzlich bereit, auf einem Schimmel einzureiten und nicht nur meine Partei, sondern ganz Polen zu retten. Nebenbei schicke ich den unliebsamen Kaczyński in die politische Rente“. So in etwa lauten fortwährend die dröhnenden Ankündigungen des ehemaligen Ministerpräsidenten, der anschließend wieder für mehrere Monate von der polnischen Bildfläche verschwindet.
Bevor jedoch seine Worte völlig verebben, spekulieren oppositionsnahe Medien und die PO-Bulletins wochenlang über eine baldige Rückkehr des „Retters der Nation“. Donald Tusk, der vor sieben Jahren seine schon damals bröckelnde Partei gen Brüssel verließ, hat ja derzeit noch andere Aufgaben. Nachdem er fünf Jahre lang als EU-Ratspräsident diverse Gipfel für Staatschefs organisierte, führt er seit 2019 die Europäische Volkspartei an. In seiner Zeit als polnischer Regierungschef in den Jahren 2007-2014 hatte er zugegebenermaßen etwas mehr zu tun. Die heutigen Gastauftritte auf CDU- und ÖVP-Parteitagen wollen sich daher nicht so recht als „Höhepunkte“ einer langen politischen Karriere anfühlen. Deshalb würde es Tusk gern noch einmal allen zeigen, vor allem seinem Widersacher Jarosław Kaczyński. Nur: kann er das überhaupt?
In seiner Geburtsstadt und PO-Hochburg Gdańsk jubeln ihm die Landsleute zu, feiern ihn als erhofften Heilsbringer. Pommern – das ist sein Revier. In anderen polnischen Städten und Regionen sehen die Reaktionen häufig ganz anders aus. Dann wird auf einmal ersichtlich, weshalb Donald Tusk es zumeist nur bei unverbindlichen Deklarationen belässt und der Plan einer baldigen Rückkehr vorerst in seinem Brüsseler Schließfach verschwindet. Als er vor wenigen Tagen erneut mit staatsmännischer Mimik eine mögliche Offensive in seiner Heimat signalisierte, brach keineswegs nur Euphorie aus, im Gegenteil: Laut der jüngsten Umfrage der Tageszeitung Rzeczpospolita wollen lediglich 28 Prozent, dass Tusk sich in Polen wieder politisch engagiert. Ja, warum nur? Sind denn die Millionen Polen, die außerhalb von Danzig leben, noch nicht „klug“ genug? In Wirklichkeit kann sich über den schwindenden Zuspruch für Tusk kann nur wundern, wer die Problemwahrnehmungen seiner Landsleute verkennt und die Ergüsse der TVN– und Newsweek-Journalisten für bare Münze nimmt.
Zugegeben: Der EVP-Chef gefällt sichtlich die endlose Diskussion über den Fortgang seiner Karriere. Solange er noch eine exponierte Stellung in Brüssel bekleidet, kann er sich beruhigt zurücklehnen und in seinem Sender mit andeutungsreichen Sätzen jonglieren. So darf er sich weiterhin als „Visionär“ inszenieren, der über die für uns wahrnehmbaren Grenzen hinausdenkt. Wer jedoch seinen Werdegang von Beginn an verfolgt, muss unweigerlich feststellen, dass Donald Tusk sich nur selten als politischer „Denker“ ausgewiesen hat. Seine Erfolge verdankt er weder irgendwelchen „Visionen“, noch anderen genialen Einfällen. Für den gebürtigen Kaschuben ist das politische Tagesgeschäft wie Fußball (nicht von ungefähr seine Lieblingssportart). Tusk ist vor allem ein talentierter Taktiker, der „von Spiel zu Spiel“ agiert. Deshalb ist zu befürchten, dass er selbst noch gar nicht weiß, was ihn künftig beruflich belasten wird. Als im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 die gesamte polnische Opposition sowie PO-nahe Zeitungshäuser Tusk vorauseilend zum „Messias“ erklärt hatten, der Andrzej Duda das Amt streitig machen könnte, zeigte er sich selbst eher skeptisch. Er wusste, dass er den harten Wahlkampf nicht unbeschadet überstünde und ihm eine Niederlage drohte. Schließlich winkte er ab. Die Wahlschlappe holte sich für ihn der Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski ab. „Ich werde nie Tusks Gesicht vergessen, als er 2005 gegen Lech Kaczyński verlor. Er hatte seine Lektion gelernt“, erinnert sich der EU-Abgeordnete Dominik Tarczyński.
In Polen ist es nicht anders als in Deutschland oder Frankreich: Wer zu lange im eigenen politischen Öl brät, bekommt an den Urnen die Grenzen seiner Möglichkeiten aufgezeigt. Tusk ist zwar kein politisches Genie, aber klug genug, die Umfragebefunde nicht zu ignorieren. Er weiß selbstverständlich um die abnehmende Popularität seiner Person. Wenn er jedoch andererseits endlos und öffentlich über eine mögliche Rückkehr sinniert, die er niemals antritt, wird er sich früher oder später der Lächerlichkeit preisgeben. Wohin das führen kann, haben seine Vorgänger Lech Wałęsa und Aleksander Kwaśniewski schon hinlänglich bewiesen. Was sind indessen die Gründe für den unaufhaltsamen Sinkflug des Donald Tusk?
„Als Tusk 2014 nach Brüssel ging, hat er einen Scherbenhaufen hinterlassen. Er hat eigentlich von Anfang an lediglich mit Emotionen Politik gemacht. Dann war er auf einmal weg und seine Parteikollegen mussten feststellen, dass man damit keine Wahlen mehr gewinnen kann“, sagt Henryk Domański von der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Der Warschauer Politologe weist auf die inhaltlichen Orientierungsprobleme der Bürgerplattform hin, die bis heute ungelöst geblieben sind. „Schon zu Tusks Zeiten war das Wahlprogramm der PO sehr unscharf. Seine ersten erfolgreichen Jahre als Premier verdankte er vornehmlich dem wirtschaftlichen Aufschwung, den das Land im Zuge des EU-Beitritts erlebte, und nicht den wenigen Reformen, die seine Regierung angestoßen hat. Tusk wird auch künftig nicht mit programmatischen Feuerwerken bestechen“, glaubt Domański.
Kurzum: Vielen Polen kommt Donald Tusk heute wie eine Figur aus einer vergangenen Epoche vor, wobei sie in der Regel kalten politischen Kaffee verabscheuen. Als „Hoffnungsträger“ gilt der ehemalige EU-Ratspräsident heute wohl nur in den Reihen antiklerikaler Redakteure der Zeitschrift Liberté! wie Leszek Jażdżewski, die panisch nach jedem „prominenten Strohhalm“ greifen, der sie eventuell weiterbringen könnte. Eigentlich ist es bemitleidenswert, dass der Gründer einer christdemokratischen Partei heute als Mentor linksradikaler Gruppen herhalten muss. Aber genau das ist einer der Gründe, wieso Tusk heute in seiner Heimat auf Granit beißen muss. Nachdem die PO im Jahr 2007 die Parlamentswahlen gewann, versprach der neue Regierungs seinen Wählern, dass ihr Land schon bald „zum Westen aufschließen werde“. Bis dahin verbanden sie diesen Begriff hauptsächlich mit Wohlstand und gerechten Löhnen. Dieser Eindruck verblasste spätestens dann, als sie in Paris plötzlich verdreckte Straßenzüge und brennende Autos sahen, in London Berichte über islamistische Anschläge hörten und in Berlin zu Zeugen gewaltsamer neomarxistischer Demonstrationen wurden. Sie waren verwundert, dass man im „Herzen Europas“ kostenlos und straffrei Häuser besetzen darf und an traditionsreichen Universitäten kuriose Studiengänge wie „Gender Studies“ existierten. Wenn dies der von Donald Tusk versprochene „Westen“ ist, dachten sich viele Polen, dann hat er sie schlechtweg hinters Licht geführt. Und er wurde nicht zwangsläufig dadurch glaubwürdiger, dass er 2014 trotz aller beunruhigenden Signale zum faktischen Anwalt dieses „Westens“ wurde und von der vermeintlich höheren „Brüsseler Warte“ die Daheimgebliebenen über „Zivilisation“ belehrte. Umso erstaunlicher ist es, dass seine Untergebenen wie Budka oder Trzaskowski noch heute hartnäckig an dieser durchschauten „Fortschrittsidee“ festhalten.
Es ist mehr zweifelhaft, das Donald Tusk einen Stimmungsumschwung in Polen herbeiführen könnte. Eine erneute Volte vom „regenbogenfarbenen“ Westen hin zum Verfechter des christlichen Glaubens würde nicht fruchten, auch wenn sie zu ihm passen würde. Schließlich war der Kommunist Kwaśniewski nach 1989 plötzlich auch „Sozialdemokrat“. Auf einem Schimmel wird Tusk jedenfalls nicht mehr einreiten, höchstens – wie die Wochenzeitung „Wprost“ suggeriert – auf einem kleinen Schaukelpferd.