Tichys Einblick
Wann auch das Falsche richtig ist

„Die Moral war sensationell gut“ – Anmerkungen zur deutschen Tugend

Jogi Löws Satz nach dem Länderspiel gegen Ungarn würde auch gut als Motto für das sensationelle Versagen Deutschlands in den Krisen der Gegenwart stehen.

Den Satz sprach Joachim Löw nach dem sensationell schwachen Auftritt der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn. Es war auch der Tag des sensationell schwachen Auftritts des Deutschen Bundestags in der letzten Fragestunde gegen die Kanzlerin. „Die Moral war sensationell gut“: es könnte als Motto über dem sensationellen Versagen in den Krisen der Gegenwart stehen.

I.

Mit Moral bezeichnet der Fußballkundige zweierlei. Da ist einmal demonstrative Moral im Sinne des Tragens von Regenbogenkapitänsbinden oder des ständigen Demonstrierens von Diversity. In diesem Sinne waren „uns“ die Ungarn natürlich moralisch eindeutig unterlegen. Unsere Moral ist sensationell gut, die ganze Welt fürchtet sich davor. Sollte das Jogis Message gewesen sein? Zum anderen ist da die Moral des sich Aufopferns: Hau dich rein! Lass nicht nach! Es ist die Freude-durch-Kraft-Moral, die Moral der sogenannten „deutschen Tugenden“.

II.

Die deutschen Tugenden (gemeint sind Sekundärtugenden, mit denen man bekanntlich auch ein KZ betreiben kann – Oskar Lafontaine hatte in dieser Hinsicht vollkommen recht) müssen immer dann an die Front, wenn Spielwitz, Tempo und Ideen fehlen. Was im Gegensatz dazu Kardinaltugenden sind, erspare ich den Lesern – mit der Tugend von deutschen Kardinälen haben sie erfahrungsgemäß wenig zu tun. Bezeichnend ist, dass in Deutschland immer dann die Moral ins Spiel gebracht wird, wenn Mangel herrscht, Mangel an Klugheit, Vernunft und Sachverstand. Die Moral stehtüber dem Mangel. Moral ist das große „Aber“. Aber die Moral war doch sensationell. Wenigstens die.

III.

Moral dient also der Kompensation von Wissen und Können. Wenn alles, was geschieht und nicht geschieht, aus moralischen Gründen geschieht oder unterbleibt, kann es keine falsche Entscheidung mehr geben. Sonst wäre die richtige Entscheidung ja nicht moralisch. Und was nicht moralisch ist, kann nicht richtig sein. Solange Versagen moralisch gerechtfertigt wird, hat niemand versagt. Beispiele gefällig? Der Ausstieg aus der Kernenergie war moralisch alternativlos. Wer Kernenergie für notwendig hält, argumentiert unmoralisch. Es sei denn, er heißt Greta Thunberg oder Bill Gates. Denn die haben die Moral gepachtet.

IV.

Das Problem der Moral ist, dass sie stets im Dienste bestimmter Interessen steht. Moral ist ein mächtiges Argument. Deshalb handelt es sich meist um herrschende Moral, die für allgemein und universal gültig gehalten werden will. Solche Moral kommt nur als Doppelmoral vor. Im Kampf um die Durchsetzung von Interessen wird sie als geistiger Kampfstoff eingesetzt. Sie soll die Sache versimpeln, die Entscheidungsfreiheit einschränken und die Widersprüche einer komplizierten Welt verkleistern. Wer mit Moral kommt, behauptet das Recht auf seiner Seite. Wir retten Menschenleben um jeden Preis – Schluss der Debatte um Schadensbegrenzung in der Pandemie! Wir retten das Klima um alles auf der Welt – Schluss mit der Debatte um den effektivsten und sinnvollsten Einsatz beschränkter Mittel!

V.

Erinnern Sie sich noch an die „geistig-moralische Wende“ des Kanzlers Kohl? Damals haben Linke und Liberale zurecht gelacht über den aufgeblasenen Versuch, das Herumwurschteln und Aussitzen moralisch zu adeln. Heute sind es die Linken und Grünen, die hinter der Fahne der Moral ins Gefecht ziehen. Das ist scheinheilig, also unmoralisch. Vor allem ist es paradox. Die Unmoral der Moralisten aber ist weder links noch rechts.

VI.

Zusammenfassung in leichter Sprache für Leser:innen und Kolleg:innen, die aus unterschiedlichen Gründen über geringe Diskurskompetenz verfügen: Moral ist etwas Gutes. Öfter verhindert sie das Richtige. Aber Moral kann nicht falsch sein. Deshalb ist auch das Falsche richtig. Es muss nur moralisch sein.

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