Tichys Einblick
Unmündige und infantile Trotzhaltung?

Unser Mündigkeitslehrer Doktor Precht

Durch Merkels Amtszeit wurden die Deutschen reif für die Demokratie neuen Typs. Nicht alle, aber viele. Wer das nicht glaubt, bekommt einen Tadel vom Staatsdenker.

Richard David Precht, Staatsphilosoph des Spätmerkelismus

IMAGO / Rainer Unkel

Staatsphilosophen kommen in der Geschichte noch seltener vor als Philosophen überhaupt. Georg Friedrich Wilhelm Hegel wurde nachgesagt, so etwas wie ein preußischer Staatsdenker zu sein. Zu Unrecht. Sein Weltgeist war die Vernunft, nicht der preußische König. 

Richard David Precht ist Fernsehphilosoph (eine vergleichsweise häufig vorkommende Spezies), und in dieser Funktion außerdem ein echter Staatsphilosoph des Spätmerkelismus. In dieser Funktion meinte er kürzlich in der Sendung „Sternstunde Philosophie“ im Schweizer Rundfunk: 

„Gegen die Coronamaßnahmen, die Migrations- und Klimapolitik auf die Straße zu gehen, zeugt von einer unmündigen und infantilen Trotzhaltung.“ 

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Nicht nur unmündig, sondern infantil ist also jeder, der sich auf den oben genannten Feldern gegen die Beschlüsse der Regierung wendet. Während bei Hegel alles Wirkliche vernünftig ist, ist es bei Precht alles, was aus dem Kabinett kommt. Seine Mündigkeit kann der Bürger eigentlich nur durch Zustimmung beweisen. 

Für solche Gedankengänge brauchte das königliche Preußen keinen eigenen Philosophen. Das erledigte ein Innenminister wie Gustav von Rochow nebenbei, und zwar mit folgender Ordre:

„Es ziemt dem Untertanen nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkelhaftem Übermute ein öffentliches Urteil über die Rechtmäßigkeit derselben anzumaßen.“ 

Im direkten Vergleich fällt übrigens auf, dass von Rochow besser formulierte als Precht.

Apropos Vergleich: Den Begriff „Mündigkeit“ benutzte am Mittwoch auch Angela Merkel in ihrer letzten Fragestunde des Bundestages. Auf die artig übereichte Frage einer Abgeordneten, ob sich die Kanzlerin eine Frau als Nachfolgerin wünsche, sagte Merkel, sie glaube, „dass die Bürger nach 16 Jahren Angela Merkel mündig genug sind“, selbst zu entscheiden, ob sie eine Kanzlerin oder einen Kanzler haben wollten. Womit sie deutlich machte, dass sie ihre Amtszeit als eine Art Mündigkeitserziehung sieht. Man wagt gar nicht zu fragen, welche Verhältnisse in Deutschland 16 v. AM herrschten, also vor ihrer Ära, und welche womöglich unmündigen Leute sie 2005 überhaupt ins Amt gebracht hatten. Aber dank Nacherziehung ist jetzt fast alles gut. Die letzten verbliebenen volkspädagogischen Aufgaben übernimmt unser Lehrer Richard Precht. 

Tagesthemen 23. Juni 2021
Nach 16 Jahren Merkel Bürger mündig genug?
Die Fragestunde mit Merkel gehörte zu den wenigen Nachrichten, die das heute-journal in der Halbzeitpause des Spiels gegen Ungarn unterbringen konnte. Über die Fragen und Antworten erfuhren die Zuschauer kaum etwas, weil die Stimme der Kommentatorin über den Fernsehbildern lag, die versicherte, wie souverän die Kanzlerin auch diesen fast letzten Bundestagsauftritt hinter sich brachte, („kaum etwas bringt sie aus der Ruhe“), wie überlegen und klug sie auf alles geantwortet habe, und dass sie überraschenderweise „aus ihrer Abneigung gegen die AfD keinen Hehl macht“. 

Falls die Medien in Ungarn annähernd in dieser Tonlage über Orban berichten sollten, dann würde dort tatsächlich eine Art Autokratie herrschen, die es natürlich doppelt und dreifach rechtfertigt, den Magyaren heimzuleuchten. 

Precht und andere Mündigkeitserzieher wissen nämlich, was eine autoritäre Herrschaft von einer modernen Demokratie neuen Typs unterscheidet: Während dort der autoritäre Herrscher Druck von oben ausüben, stimmen hier reife Bürger von unten freiwillig den alternativlosen Maßnahmen zu. 

Wer ganz vorbildlich sein möchte, oder wer eine strenge Strafe verdient, liest vor der Bettruhe noch ein Werk von Precht. Und zwar ganz ohne Anweisung. Was nicht ausschließt, dass die Prechtpflicht für unmündige Trotzköpfe nicht irgendwann doch noch kommt.

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