Politik und Sport trennen: Es bleibt ein unerfülltes Versprechen. Die Fußball-Europameisterschaft ist dafür nur das jüngste Beispiel. Vor der Partie Belgien-Russland sollten die Spieler in die Knie gehen – als Zeichen gegen Rassismus. Die Belgier taten es, die Russen blieben stehen. Nicht genug: Auch die russischen Fans auf den Tribünen wehrten sich und buhten die belgische Mannschaft aus. Eine Woche zuvor hatte es einen ähnlichen Vorfall gegeben, als vor der Partie zwischen Irland und Ungarn die Iren ebenfalls niederknieten und die Fans gegen die Geste aufbegehrten. Knien oder nicht knien, das ist mittlerweile die wichtigste fußballerische Frage. Die Engländer sind dafür, die Niederländer dagegen, die Deutschen unentschieden. Der polnische Botschafter in Deutschland, Andrzej Przylebski, sprach sich in den Medien gegen das Niederknien aus: „Ein echter Pole kniet nur vor Gott – und eventuell vor der Frau, um deren Hand er bittet.“ Der Kniefall ist wie die Nationalhymne zum Teil der Eröffnungszeremonie geworden. Dass die Fußballer bereits eine Armbinde mit „Respect“-Logo als Bekenntnis gegen Rassismus tragen, ist offensichtlich nicht genug.
Dabei wissen viele Medienvertreter selbst nicht, wie die Geste zu erklären ist. Während die Sportschau der ARD einen Zusammenhang zwischen Kniebeuge und Unterstützung der „Black Lives Matter“-Bewegung sieht, erklärt die Süddeutsche Zeitung die post-feudale Genuflexio zu einer Tradition, die bis ins 18. Jahrhundert zurückgehe und keine Verbindung zu politischen Organisationen hätte; sie sei nur durch die „Black Lives Matter“-Proteste zur Berühmtheit gelangt. Die Vorgeschichte dieser „Symbolik“ in der US-amerikanischen National Football League wird dagegen eher ausgespart. Dort erlangte der Quarterback Colin Kaepernick Berühmtheit, weil er in der Saison 2016 bei der US-Nationalhymne niederkniete oder sitzen blieb.
Obama findet die Respektlosigkeit gut
Kaepernick schuf einen Präzedenzfall für ähnliche Verstöße. Während in konservativen Kreisen die Respektlosigkeit gegen die Hymne als Respektlosigkeit gegen die Vereinigten Staaten als Ganzes aufgefasst wurde, unterstützte der damalige US-Präsident Barack Obama Kaepernicks Aktionen als durch die Verfassung garantiertes Recht auf Protest, um auf „wirkliche Probleme“ hinzuweisen. Ungehört blieb der schwarze britische Fußballprofi Wilfried Zaha, der nach Einführung dieser neuesten antirassistischen Mode im Vereinigten Königreich von einer „bedeutungslosen Scharade“ sprach. Christian Mayr von der Wiener Zeitung konstatierte: Das gebeugte Knie habe eine „beachtliche Karriere“ von einer „verpönten antipatriotischen Geste zum globalen Solidarisierungs-Ritual“ hingelegt. Es bestehe die Gefahr eines Zwanges, der sich zur Folklore „Abknien, fertig, Anpfiff“ entwickeln könne.
Im Vordergrund: Die Demütigung von Kultur und Nation
Die Geschichte des Niederkniens bei Sportveranstaltungen ist damit kaum von der Respektlosigkeit gegenüber der eigentlichen Zeremonie zu trennen – nämlich des Abspielens der Nationalhymne. Beide Vorgänge stehen in einem Konkurrenzverhältnis, das nur dadurch übertüncht wird, dass sie nunmehr zeitlich voneinander getrennt sind. Es ist symptomatisch für die Gegenwart, dass der Verstoß gegen die Würde eines Symbols als „verkraftbar“ angesehen wird, mit dem Verweis, es sei eben nur ein „Symbol“, die ideologisch goutierte Botschaft dagegen eine solche Aufladung erfährt, dass eine Nichtbeachtung desselben als unerträglicher Zustand verstanden wird.
Die Demütigung einer Nation, einer Kultur oder der eigenen Vorfahren erscheint unproblematisch; die Hinterfragung einer offensichtlichen politischen Agenda dagegen nicht, wenn sie vordergründig gute Absichten verfolgt. Für die ostmitteleuropäischen Völker ist der Kotau schon deswegen schwer verständlich, da sie einerseits über keine Kolonialgeschichte verfügten und andererseits selbst Opfer ihrer europäischen Nachbarn waren. Das Kapitel der Selbstverleugnung hat der ehemalige Ostblock ausführlich erlebt, ein Aspekt, der im Geist der Nationalhymne mitschwingt. Die Polen besingen bis heute das Verschwinden ihres Vaterlandes, den atheistischen Kommunisten war die ungarische Hymne – mehr ein Bittgebet zu Gott denn eine nationale Selbsterhöhung – ein Dorn im Auge.
Symptomatisch: die Trivialisierung der Nationalsymbole
Anders ist nicht zu erklären, warum im Mittelalter die Verbrennung einer venezianischen Flagge in Padua zur Kriegserklärung durch die Republik Venedig führte; und ebenso wenig wäre es sonst zu erklären, warum die Verunglimpfung der Nationalhymne als weltlicher Hymnus zugunsten von Land und Volk noch heute einen Passus im Strafgesetzbuch enthält. Wo die Nationalhymne erschallt, da ist die Nation; ähnlich wie im Mittelalter das Reich dort war, wo sich der König aufhielt. Die Nationalhymne ist in ihren Grundzügen eine Form des Schwurs. Sie bricht mit der alteuropäischen Form des Eides auf den Monarchen oder Gott, führt jedoch die Traditionslinie des Eides als Loyalitätsbekundung fort, die seit der Französischen Revolution vor allem der Nation gilt.
„Das Anstimmen der Nationalhymne
ist demnach der letzte erlaubte Schlachtruf
der schönen neuen Welt; ein antiquierter Schlachtruf“
Nirgends wird dieser Wandel deutlicher als am Beispiel von Haydns Hymne, deren erste Noten einst Gott und Kaiser galten – Hoffmann von Fallersleben lässt seine Version dagegen mit „Deutschland“ beginnen. Eine ganze Reihe europäischer Hymnen fordert nicht weniger als das totale Opfer: in Italien hallt der Refrain „Lasst uns die Reihen schließen, wir sind bereit zum Tod, Italien hat gerufen!“, die Schweden kämpfen mit Gott „für Heim und Herd, für Schweden, die geliebte Heimaterde“ und selbst die niederknieenden Belgier schwören ihrem Vaterland „Dir unser Herz, dir unsere Hand, Dir unser Blut“ zu geben.
Francis Fukuyama, der einst vom „Ende der Geschichte“ in Form einer liberalen Weltdemokratie träumte, sah in Sportereignissen wie Fußballmeisterschaften einen Ersatz für jahrhundertealte kriegerische Konflikte. Das Anstimmen der Nationalhymne ist demnach der letzte erlaubte Schlachtruf der schönen neuen Welt; ein antiquierter Schlachtruf, den selbst die Sänger nicht mehr verstehen. Aus dem Bekenntnis ist bloßes Ritual geworden. Damit ergibt sich die Chance für das globale Bekenntnis. Der Kniefall, der früher Gott und König vorbehalten war, gilt nun einer unbekannten Entität – aber dafür weltweit. Besser, so mag man denken, als die reaktionären Reste europäischer Imperien und Nationalstaaten weiterzuschleppen.
Es besteht Nachholbedarf
Der Schweizerpsalm: ein rückständiger katholischer Singsang. Flower of Scotland: ein Lied aus der Hippie-Zeit, das der Schlacht von Bannockburn gedenkt. Oder gar der niederländische Wilhelmus mit seinen verstaubten Bibelanalogien und der Frage nach Königstreue. Hier besteht Nachholbedarf. Vielleicht könnte man dem Beispiel Spaniens folgen und gar nicht mehr singen; so denn der Königliche Marsch aus der Zeit des Spanischen Weltreiches zartbesaitete Gemüter nicht zu sehr verstört.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.