Ältere Menschen können sich noch an die Stagflation der Siebziger Jahre erinnern, also an hohe Preissteigerungen bei stagnierendem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Jahr 1975 betrug die Inflationsrate in Westdeutschland 6 Prozent, aber die Wirtschaft schrumpfte um 0,9 Prozent, wie Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen. Das war eine gefährliche Entwicklung: Nicht nur entwertete die Stagflation die Löhne und Ersparnisse, sondern einige verloren sogar ihre Arbeit.
Volkswirte erwarten nun wieder eine ähnliche Kombination. Etwa sagt der Ökonom der sogenannten Österreichischen Schule Philipp Bagus zu TE, er halte ein solches Szenario für “durchaus wahrscheinlich”. Im Mai stiegen die Verbraucherpreise laut Statistischem Bundesamt um 2,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. In den USA betrug die Inflationsrate sogar 4,2 Prozent im April. Laut einer Umfrage der FAZ erwarten viele Ökonomen Inflationsraten über drei Prozent in diesem Jahr in Deutschland – einige schätzen die Preissteigerungen gar auf 4 Prozent für einzelne Monate zum Jahresende.
Der Leipziger Ökonom Gunther Schnabl warnt ebenfalls vor Stagflation. Die Rücklagen und Ersparnisse seien in den Lockdown-Monaten gestiegen, sagte er der Wirtschaftswoche. Sobald etwa die Gastronomie öffne, könnten viele Bürger Konsum nachholen und die Preise nach oben treiben. “Der Post-Corona-Aufschwung ist in Deutschland keinesfalls gesichert”, warnte er. Gleichzeitig sprach er im Zusammenhang mit den Lieferengpässen von “wachsenden Kosten der Regulierung” im Zuge der Corona-Maßnahmen. Die Handelshemmnisse würden wachsen und die internationalen Transportkosten hätten zugenommen.
Die Lieferengpässe sind in der Tat enorm. Etwa haben sich Basiskunststoffe und Stahl immens verteuert. Baumaterialien wie Holz und Dämmstoffe sind sehr knapp. Einzelne Baustellen sollen wegen fehlendem Material bereits still stehen, ist aus Branchenkreisen zu hören (TE berichtete). Dazu kommen die rasant steigenden Frachtraten in der Container-Seefahrt. “Alle Zahlen, die ich habe, deuten auf einen historischen Rekord hin”, sagte etwa ein Seehandelsexperte gegenüber TE. Das ifo-Institut meldete denn auch, dass im April 45 Prozent der Unternehmen unter Lieferengpässen litten und stellte fest: “Dieser neue Flaschenhals könnte die Erholung der Industrie gefährden.”
Verschärfend kommt hinzu, dass es bei vielen Vorprodukten wohl dauern dürfte, bis sich die Lage entspannt. Etwa schockierte eine Managerin des Chip-Herstellers Flex mit der Prognose, der Mangel dürfte noch bis Mitte oder Ende des Jahres 2022 anhalten. “Manche erwarten bis ins Jahr 2023”, sagte Lynn Tyrell der Financial Times. Autobauer wie VW, Ford oder Daimler mussten bereits die Produktion zeitweise stoppen oder drosseln, weil Chips fehlten. Auch der Bundesverband Deutscher Stahlhandel schreibt Mitte Mai in einem Rundbrief an die Mitglieder, dass ein Ende des Stahlmangels “zurzeit nicht absehbar” sei.
Unternehmen wollen auch wegen der Materialknappheit ihre Preise weiter anheben. Laut einer Umfrage des ifo-Instituts vom Mai planen Firmen aus fast allen Branchen, die erhöhten Kosten auf der Beschaffungsseite auf die Kunden abzuwälzen und Preissenkungen vom Beginn der Krise wieder zurückzunehmen. Die Prozentzahl der Unternehmen, die ihre Preise erhöhen wollen, abzüglich jener, die ihre Preise senken wollen, stieg für die Industrie von 32 auf 37, für den Bau von 12 auf 32, für den Einzelhandel von 24 auf 36 und bei den Dienstleistern von 14 auf 20. “Die starken Preissteigerungen bei vielen Rohstoffen ziehen sich letztendlich quer durch die gesamte Wirtschaft”, sagte denn auch Klaus Wohlrabe vom ifo-Institut.
Zudem wächst die Geldmenge stark. Die EZB zuletzt massiv Geld in die Märkte gepumpt. Die monatliche Jahreswachstumsrate der Geldmenge M3 lag zwischen September und März im zweistelligen Bereich, sank aber im April auf 9,2 Prozent. “Es wurde und wird viel Geld produziert. Die Staatsschulden schwellen an”, begründet Philipp Bagus, warum er eine Stagflation für wahrscheinlich hält.
Vieles deutet auf einen Insolvenzstau hin. Der Wirtschaftsinformationsdienstleister Creditreform schreibt, dass im Jahr 2020 die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Westeuropa “so gering wie seit drei Jahrzehnten nicht” gewesen sei. Die Zahl der Pleiten sei um mehr als ein Viertel auf 120.000 gesunken. In Deutschland lag das Minus bei 14,8 Prozent. Zuletzt teilte auch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle mit, dass im Mai die Insolvenzzahlen rückläufig waren. Demnach hätten 11 Prozent weniger Unternehmen als im April und 30 Prozent weniger als im Vorjahresmonat Insolvenz angemeldet.
Diese Zombifizierung der Wirtschaft, in der also immer mehr Unternehmen fortbestehen, obwohl sie längst unrentabel sind, dürfte die Erholung weiter gefährden und Stagflation begünstigen. Sie könnte die Unsicherheit unter Unternehmern bezüglich von Zahlungsausfällen ihrer Kunden erhöhen. Zwar teilte die Creditreform Ende Mai mit, dass Unternehmen im Schnitt nur noch 10,1 Tage im ersten Quartal im Zahlungsverzug waren – eine Verbesserung um einen Tag im Vergleich zum Vorjahresquartal. Aber das sei kein Zeichen der Gesundung, schrieb die Wirtschaftsauskunftei. Unternehmenslenker hätten sich an die unsichere Lage gewöhnt und ihr Risiko- und Forderungsmanagement angepasst. “Zur Stabilisierung haben vor allem die massiven staatlichen Hilfsmaßnahmen beigetragen, durch die große Mengen an Liquidität an die Unternehmen ausgereicht wurden”, sagte Patrik Ludwig Hantzsch von der Creditreform.
Eine Stagflation kann lange dauern, bevor schließlich die Rezession einsetzt. Etwa war der Ökonom Friedrich August von Hayek überrascht, als die inflationäre Geldschöpfung der Banken in den 1960er und 1970er-Jahren ohne Krise anhielt. “Meine Erwartung war, dass der inflationäre Boom fünf oder sechs Jahre dauern würde, wie das bei historischen Aufschwungsphasen der Fall gewesen war, aber ich hatte vergessen, dass die historischen Boomphasen aufgrund des Goldstandards endeten”, sagte der Ökonom der Österreichischen Schule, der im Jahr 1974 den Nobelpreis der Schwedischen Nationalbank für seine Konjunkturforschungen erhielt. Ohne Goldstandard könne man über weitaus längere Zeiträume die Geldmenge ausdehnen. “Das Endergebnis ist aber dasselbe”, sagte Hayek mit Blick auf die nachfolgende Wirtschaftskrise.