Es ist wahrlich kein Donnerschlag aus heiterem Himmel, dieses Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, das auf 67 Seiten noch einmal darlegt, was eigentlich mehr oder weniger alle wissen: Die Renten sind ganz und gar nicht sicher. Schon bis 2025 werden in der gesetzlichen Rentenversicherung „schockartig steigende Finanzierungsprobleme“ drohen, schreiben die Ökonomen unter Federführung von Axel Bursch-Supan vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Dann gehen nämlich jene starken Jahrgänge in Rente, die damals, als Blüm plakatierte, gerade erst ins Berufsleben starteten. Die klamme staatliche Rentenversicherung wird schon jetzt nur durch Bundeszuschüsse über Wasser gehalten. Im laufenden Jahr werden das wohl mehr als 106 Milliarden Euro sein, im Jahr 2024 dem Finanzplan zufolge schon mehr als 119. Zum Vergleich: 2019 waren es erst 77,6 Milliarden.
Nicht zuletzt auch wegen der Coronamaßnahmen, die die Bundesregierung gerade bis in den Herbst zu verlängern gedenkt, und all der anderen Großzügigkeiten der Regierenden nicht zuletzt für die weitgehend unkontrollierte Migration wird die Bundeskasse aber selbst immer weiter klaffende Löcher ausweisen. Übrigens geht es beim Finanzierungsproblem der Altersvorsorge nicht nur um die Renten, sondern auch um Milliardenkosten für die jetzt noch Beamten und künftigen Pensionäre, für deren im Vergleich zu den Renten üppige Pensionen es in den Landeskassen keine auch nur ansatzweise ausreichenden Reserven gibt. Auch da ist nichts sicher – nur dass schon sehr bald der Ruf nach Geld aus der Bundeskasse erschallen wird.
Und wie reagiert der Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidat der SPD Olaf Scholz? Er wütet gegen die Boten – er wolle lieber „mit echten Experten“ diskutieren – , weil ihm die Nachricht nicht behagt: „Die Vorschläge dieses sogenannten Expertengremiums sind falsch gerechnet und unsozial.“ Und: „Das sind alles Horrorszenarien, mit denen Rentenkürzungen begründet werden sollen, für die es keinen Anlass gibt.“ Und auf Twitter bekräftigt er genau jene Illusion der langfristig gesicherten Haltelinien, vor der die Experten warnen: „Rente ab 68? Nicht mit mir!“
Scholz Reaktion ist nicht nur beleidigend, sondern vor allem ignorant. Wollte er wirklich ernsthaft den späteren Rentenbeginn verhindern, müsste er ankündigen, wo der Staat die stetig steigenden Zuschüsse einsparen wird. Das tut er nicht. Gleiches gilt für seinen Parteifreund und Sozialminister Hubertus Heil. Auch er antwortet argumentfrei mit sozialpolitischen Phrasen von der Anerkennung von Lebensleistung und Sicherheit im Alter. „Darauf muss sich jede und jeder verlassen können.“ Wäre genau das nicht ein Grund, das System zu reformieren?
Diese Reaktionen zeigen nur eins: Für Sozial- und Finanzpolitiker wie Scholz und Heil gibt es keinen Anreiz, sich jetzt mit dem Thema überhaupt zu befassen. Damit macht man im politischen Betrieb der Gegenwart keinen Eindruck. Da ist nichts zu holen, was sich dann für den machtbewussten Politiker auszahlt. Wäre es anders, hätte die Machtmeisterin Merkel das Thema nicht seit ihrer ersten Legislatur aus ihrer Aufmerksamkeit entfernt. Strukturprobleme des Staates, die über den Horizont der akuten Machtfragen und schnellen öffentlichen Aufmerksamkeit hinausreichen, interessieren weder Merkel noch Scholz, noch sonst jemanden in der Bundesregierung. Das hat Scholz mit seiner Aussage, es gebe „keinen Anlass“ für die „Horrorszenarien“, eindrucksvoll belegt: Strukturprobleme wie die Rentenversicherung haben es so an sich, dass sie anlasslos immer virulenter werden. Wenn es wirklich knallt, ist es zu spät, dann hat die Politik in ihrer wichtigsten Funktion, eine Ordnung zu schaffen, in der die Gesellschaft bestehen kann, versagt.
Das Thema Rente ist schon viele Jahrzehnte alt. Das ist vielleicht auch Teil des Problems: Die Öffentlichkeit ist seiner überdrüssig, die bevorstehende Rentenkatastrophe wird irgendwann einfach langweilig, weil sie zum Inventar der deutschen Politik gehört. Die Misere wird in Zeitungen in der Regel mit dem immergleichen Bild von 1986 illustriert: Arbeitsminister Norbert Blüm klebt das berüchtigte Plakat an eine Litfaßsäule: „Eins ist sicher: die Rente“.
Natürlich war schon damals absehbar, dass diese Behauptung nicht stimmt. Sie galt für damalige Rentner, wohl auch noch für die jetzigen, aber ganz bestimmt nicht für die künftigen. Der deutsche Sozialstaat beruht immer noch auf Adenauers Irrtum, dass die Deutschen weiterhin Kinder kriegen werden, wie sie es bis Mitte der 60er Jahre taten. In den frühen 1960er Jahren bekam eine Frau in Deutschland im Schnitt mehr als 2,5 Kinder, seit den 1970er Jahren weniger als die Hälfte – und die Lebenserwartung stieg und steigt weiter. In den späten 1960er Jahren lag die durchschnittliche Rentenbezugsdauer für Männer bei kaum über 10 Jahren, für Frauen etwas länger, heute leben Rentnerinnen noch über 21 Jahre und Rentner über 18 Jahre (von dieser Männerbenachteiligung durch Natur oder was auch immer redet übrigens niemand). Angesichts der weiter steigenden Lebenserwartung ist natürlich auch Scholz‘ Behauptung, die Anhebung des Rentenalters sei eigentlich eine Rentenkürzung, höchst fragwürdig. Dann müsste man auch die verlängerte Lebenserwartung als Rentenerhöhung bezeichnen, was sie systematisch natürlich ist.
Der erst langsam, nun aber immer schneller und schwerer heran rollende Kollaps der staatlichen Rentenversicherung beruht eben nicht nur auf demographischen Veränderungen, sondern auch auf einer langen Versagensgeschichte der politischen Klasse: Die Kassandrarufe von Demographen wie Herwig Birg seit den 1970er Jahren wurden weitgehend ignoriert oder mit ideologisch-moralischen Keulen (das Stichwort „Mutterkreuz“ genügte meist) beantwortet. Die Folge war eine halbherzige Pseudofamilienpolitik, die Eltern durch Steuern und Abgaben stets mehr abknüpfte, als sie ihnen dann an Unterstützung gewährte. Die letzte Antwort schließlich war die forcierte Einwanderungspolitik, die für junge Beitragszahler sorgen sollte – Höhepunkt 2015. Seither ist es erstaunlich still geworden um die Versprechungen der Sanierung des Sozialsystems durch Einwanderung.
Die traurige Wahrheit ist wohl, dass es in der gegenwärtigen Lage für Politiker (noch) keine Anreize gibt, das Rentenproblem grundlegend anzugehen. Mit der Anhebung des Rentenalters macht man sich nicht beliebt. Aber nicht nur in der politischen Klasse, sondern auch in der Öffentlichkeit herrscht nach Jahrzehnten der Kassandra-Rufe einerseits und der rentenpolitischen Flickschusterei andererseits eine Art Lähmung angesichts der bevorstehenden Katastrophe.
Offenbar legen es Politiker wie Scholz genau darauf an: Einfach weitermachen, solange der große Knall nicht unmittelbar bevorsteht. Und wenn es soweit ist, müssen sich die Regierenden halt noch eine schicke Krisenlösung einfallen lassen, im Zweifel druckt die EZB eben das fehlende Geld.