Der Zeitpunkt hätte kaum besser gewählt werden können: Einen Tag nach dem katholischen Hochfest von Fronleichnam und damit an einem relativ ereignisarmen Brückentag zwischen Feiertag und Wochenende ließ Münchens Erzbischof, Reinhard Kardinal Marx (67), die Bombe platzen: Er machte einen bereits am 21. Mai verfassten Brief an Papst Franziskus öffentlich, in dem er seinen „Chef“ in Rom darum gebeten hatte, seinen Verzicht auf das Amt des Erzbischofs von München und Freising anzunehmen und über seine weitere Verwendung zu entscheiden. Marx war von 2001 bis 2008 Bischof in Trier gewesen, ehe er 2008 als Erzbischof ins Bistum München-Freising wechselte. Der Papst war mit der Veröffentlichung des Marx-Briefes einverstanden; zugleich bat er Marx, dass dieser bis zu einer päpstlichen Entscheidung seinen bischöflichen Dienst weiter ausüben solle.
Wörtlich schreibt Marx in seinem Brief: Die Kirche sei an einem „toten Punkt“ angekommen, meint er. Im Kern geht es für mich darum, Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten.“ Die Untersuchungen und Gutachten der zurückliegenden zehn Jahre hätten für ihn durchgängig gezeigt, dass es „viel persönliches Versagen und administrative Fehler“ gegeben habe, aber „eben auch institutionelles oder systemisches Versagen“. Die Diskussionen der letzten Zeit hätten gezeigt, „dass manche in der Kirche gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen“, so der Kardinal. Dieser Haltung, die aus innerkirchlich konservativen Kreisen stammt, erteile Marx „seine“ klare Absage.
Mit seinem Amtsverzicht, so der Kardinal, könne vielleicht ein persönliches Zeichen gesetzt werden für neue Anfänge, für einen neuen Aufbruch der Kirche. „Ich will zeigen, dass nicht das Amt im Vordergrund steht, sondern der Auftrag des Evangeliums.“ Und: Der in Deutschland begonnene Reformprozess Synodaler Weg müsse weitergehen. Marx hatte ihn 2019 mit auf den Weg gebracht und sich stark für ihn eingesetzt. Nun aber, so Marx wörtlich, sei die katholische Kirche an einem „toten Punkt“ angekommen.
Was aber sind des Pudels Kerne, die hier offenbar miteinander vermengt werden? In nachhinein betrachtet, kam der Antrag auf Amtsenthebung nicht überraschend. Bereits im Februar 2020 hatte Marx darauf verzichtet, sich erneut für sechs Jahre zur Wahl als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz zu stellen. Offenbar war er im Kreis seiner Amtsbrüder auch als Person nicht nur gut gelitten. Seine eitle, „herrische“ Art, wie es hieß, und seine Misserfolge bei der Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs innerhalb der Kirche stießen viele andere Bischöfe auf.
Auch spielte damals schon eine große Rolle, dass Marx als vormaliger Bischof von Trier in Sachen Kindesmussbrauch sein Wirken bzw. sein Nicht-Wirken dort nicht länger vertuschen konnte. Kurz: Es reichte nicht mehr aus, im Mai 2021 auf das Bundesverdienstkreuz zu verzichten. Und es reichte nicht mehr aus, von München mit dem Finger nach Köln zu zeigen. Es sei die These gewagt, dass Kölns Kardinal Woelki zumal nach dem Besuch einer päpstlich angeordneten „Visitation“ wohl ungeschoren davonkommen wird.
Der andere Pudelkern ist der Synodale Weg. Diese Synodale Weg war – aus Rom kritisch beäugt – ein Herzensanliegen von Marx. Die Deutsche Bischofskonferenz hat auf ihrer Frühjahrsvollversammlung im März 2019 diesen Synodalen Weg beschlossen. Damit sollte bzw. soll im Verein mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) der Missbrauchsskandal aufgearbeitet werden. In vier Foren werden folgende Punkte diskutiert: die Aufarbeitung von Fällen von sexuellem Missbrauch in der Kirche; die Lebensform der Bischöfe und Priester; die Sexualmoral der Kirche; die Frage von Diensten und Ämtern von Frauen in der Kirche.
Abseits der Aufarbeitung des Missbrauchs wäre der „Synodale Weg“ – wie drei der vier Punkte zeigen – allerdings ein Stück Protestantisierung der katholischen Kirche. Immerhin hatte Papst Franziskus im Vorfeld des „synodalen Weges“ am 29. Juni 2019 in diesem Sinne einen Brief „an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ geschrieben, in dem er die Katholiken in Deutschland zu Reformen ermunterte, aber gleichzeitig davor warnte, es dürfe nicht um eine Anpassung an den Zeitgeist und um rein strukturelle Fragen gehen. Papst Franziskus selbst soll in einem Gespräch mit einem deutschen Altbischof sogar gesagt haben, „e i n e evangelische Kirche in Deutschland“ reiche aus.
Der Synodale Weg wird wohl nun nicht nur schwieriger, sondern wohl unmöglich werden. Das spürte Marx spätestens, als Papst Franziskus die Beschlüsse der sogenannten Amazon-Synode kassierte, das spürte auch der seit 2015 amtierende ZdK-Vorsitzende Thomas Sternberg, der im Herbst 2021 nicht für eine weitere Amtszeit als ZdK-Präsident zur Verfügung stehen will. Dass Sternberg seine Enttäuschung über das Rücktrittsangebot von Marx nicht verbergen kann, ist klar. „Da geht der Falsche“, sagte Sternberg der „Rheinischen Post“. „Was Marx in der Ökumene, beim Synodalen Weg und auch bei der Missbrauchsaufarbeitung geleistet hat, ist ganz wichtig gewesen.“ Wen Sternberg mit dem unausgesprochen „Richtigen“, der gehen hätte sollen, meinte, dürfte auch klar sein.
Wie geht es weiter mit Marx? Es gab in jüngerer Zeit zwei deutsche Bischöfe, die ihr Amt vorzeitig aufgaben bzw. aufgeben musst. Franz-Peter Tebartz-von Elst, 2008 bis 2014 Bischof von Limburg, wurde nach Rom versetzt; Walter Mixa, vormaliger Bischof von Eichstätt (1996 – 2005) und Augsburg (2005 – 2010), zog sich ins Privatleben zurück. Dem Limburger Bischof waren im Zusammenhang mit Baumaßnahmen Verstöße gegen kirchliches Vermögensrecht, dem Augsburger Bischof Vorwürfe wegen Missbrauchs und Untreue vorgeworfen worden. Was aus Marx wird, ob er eine Aufgabe in Rom bekommt und ob er die Kardinalswürde behalten und damit einen nächsten Papst mitwählen darf, weiß man noch nicht.
Mit Marx geht nun ein kirchlicher Würdenträger, der sich oft genug mehr als Politiker denn als Seelsorger verstanden hatte. Merkel hatte wegen ihrer Flüchtlingspolitik sein ostentatives Wohlwollen. „Bootsrettern“ im Mittelmeer ließ er schon auch mal eine Spende über 50.000 Euro zukommen. Und wenn es ihm opportun erschien, verzichtete er auch auf kirchliche Insignien. Bei seinem Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg etwa legte er wie der mitgereiste evangelische Bischof Heinrich Bedford-Strohm sein Bischofskreuz ab. So gesehen ist Marx‘ Abgang eine Chance für die Katholische Kirche nicht nur zur Aufklärung des Mussbrauchs, sondern auch eine Chance, den Weg wieder zurück von einer politisierenden NGO zu einer Kirche einzuschlagen.
Unter dem Strich bleiben zwei Dinge: Erstens ist (auch dieser) Marx Geschichte. Denn wenn Rom sein Rücktrittsschreiben nicht annehmen würde, hätte der Papst ihm die Vorabveröffentlichung am 4. Juni 2021 nicht erlaubt. Und zweitens: Marx ist gescheitert. Er hatte geglaubt, seine innerkirchliche Reform-Agenda mit dem organisierten Laientum in Deutschland gegen Rom durchdrücken zu können. Aber diese „deutsche Marx-Kirche“ wird es nicht geben.
Mit dem Rücktritt von Marx ist nun endlich der Weg frei für die Veröffentlichung des Trierer Missbrauchsgutachtens. Und die Kirche in Deutschland kann sich für eine Zeit nach der Corona-Pandemie mit neuen Leuten neu aufstellen. Es wird kein „great reset“, aber es besteht die Hoffnung zu einem neuen Aufbruch.