Tichys Einblick
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Wer sich fragt, ob er verrückt wird, ist es meist nicht

Monika Marons „Was ist eigentlich los“ versammelt Essays aus vier Jahrzehnten: Texte einer scharfsichtigen Autorin mit einer ausgeprägten Skepsis gegen Beglückungsideologien

Ungefähr in der Mitte von Monika Marons Essaysammlung „Was ist eigentlich los?“ findet sich der Text „Zeitunglesen“, dessen Untertitel lautet: „Bin ich vielleicht verrückt geworden?“ Die Frage schließt sich an die des Buchtitels an. In „Zeitunglesen“, einem Text aus dem Jahr 2013, beschreibt Maron ihre Reaktion auf die Sprachveränderung, die sie in den Medien, Institutionen und an Medienkonsumenten wahrnimmt. Etwa, wenn es um Überlegungen geht, die Begriffe „Mutter“ und „Vater“ in offiziellen Dokumenten durch „Elter 1“ und „Elter 2“ zu ersetzen. Oder um das Wort „Islamophobie“, das ihr jetzt allenthalben begegnet – als Diagnose für alle, die etwas an dem politischen Machtanspruch von Muslimen zu kritisieren haben, oder die sich auch einfach nicht übermäßig mit dem Islam und Religion allgemein beschäftigen möchten.

Das, so erfährt sie beim Zeitunglesen, sei kein legitimer Standpunkt, sondern eine Phobie, eine Angststörung, also etwas Behandlungsbedürftiges. „Hätte ich es nicht wenigstens hundertmal schwarz auf weiß gelesen, wüsste ich wahrscheinlich heute noch nichts von meiner Krankheit“, schieb Maron damals. „Das ist eben das Gefährliche an der Krankheit: man hat sie, ohne das Geringste zu bemerken. Deshalb halten es die Zeitungen für ihre Pflicht, Menschen wie mich darüber aufzuklären, dass sie, ohne es zu wissen, längst von dieser sich seuchenartig verbreitenden Krankheit infiziert sind.“

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In diesen aus heutiger Sicht noch sehr entspannten Zeiten fragte sich die Autorin ganz zum Schluss – neben der schon zuvor aufgeworfenen Frage, ob sie als verrückt zu gelten habe oder Leute, die mit den oben genannten Begriffen operieren – „warum sich die Zeitungen eigentlich wundern, dass immer weniger Leute sie lesen wollen.“  Ihr Text erschien damals im SPIEGEL, der heute einen ähnlichen Essay wahrscheinlich nicht mehr veröffentlichen würde und 2021 übrigens gut 50 000 Leser weniger findet als damals.

Dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, lässt sich auch bei einer Essaysammlung eines Autors von Rang feststellen. In Monika Marons „Was ist eigentlich los?“ folgt der Leser der Autorin durch vier Jahrzehnte durch eine Zeit, in der sich Geschichte extrem beschleunigte, allerdings eher auf einer krummen Linie statt in voraussehbaren Schritten.

Im ersten Text des Bandes steht die Mauer noch. Im letzten Stück des Buchs, einem Essay aus dem Jahr 2019, beschreibt sie eine neue Mauer, die zwischen den Wohlmeinenden, die in der Klima-, Migrations- und Geschlechterfrage die jeweils richtige Antwort kennen, und denen steht, die nach Ansicht der Richtiggeleiteten am besten gar keine Bühne bekommen sollten, weil falsche Antworten und selbst falsche Fragen der Gesellschaft nur schaden würden. Der Essay am Anfang beschreibt die Spätausläufer des kalten Krieges, der letzte Text einen Kulturkrieg, der seinen Höhepunkt wahrscheinlich noch vor sich hat. Maron erzählt dort, in „Unser galliges Gelächter“, erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung“, wie dieses Klima sie bei allen Unterschieden wieder an die DDR erinnert: „Wenn Zweifel schon verdächtig sind, wenn Fragen als Provokation wahrgenommen werden, wenn Bedenken als reaktionär gelten, wenn im Streit nur eine Partei immer recht hat, können einen alte Gefühle eben überkommen.“

Krummen Gestalten an der Allerweltsecke
Ein Exil für Freiräume des Denkens und Träumens
Mehr als die Summe seiner Teile sind die Essays von Monika Maron also nicht nur, weil sie eine scharfsichtige Autorin zeigen, sondern auch, weil die Texte sich in einem Zug als Mentalitätsgeschichte lesen lassen. Wie konnte es dahin kommen, dass sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 im Westen keine dauerhafte Freude an der Freiheit durchsetzte, sondern ein neues antiliberales Eiferertum?

Maron, geboren am 3. Juni 1941 in Berlin, Enkelin eines jüdischen, aus Polen stammenden Großvaters, wuchs in einem kommunistischen Elternhaus auf, ihr Stiefvater Karl Maron amtierte bis 1963 als Innenminister der DDR. Von der kommunistischen Orthodoxie löste sie sich ab, was zu einem jahrelangen, später aber wieder geheilten Bruch mit ihrer Mutter führte. Die Erfahrung mit der DDR und ihrer Rechtfertigungsideologie stattete Maron offenbar mit einer Grundskepsis gegen Erlösungsideologien aus. In dem Essay „Ich war ein antifaschistisches Kind“ erzählt sie von dieser Familiengeschichte und ihren Folgen. „Wo immer ich höre“, schreibt sie, „dass einer weiß, was der anderen Menschen Glück ist; wo immer ich lese, dass jemand im Namen einer Idee über Millionen Menschen verfügt, und sei es nur in Gedanken; wo immer ich sehe, dass einer alten Ideologie frische Schminke aufgelegt wird, um ihren Tod zu maskieren, packt mich das Entsetzen.“

Im Jahr 1981 veröffentlichte sie ihr Buch „Flugasche“ über die Umweltzerstörung in der DDR bei S. Fischer in Frankfurt, 1988 reiste sie in die Bundesrepublik aus. Nach vielen Büchern und einem guten Dutzend literarischer Preise trennte sich die Fischer Verlage 2020 von ihr, angeblich, weil sie eine Essay-Auswahl in der Reihe „Exil“ des Buchhauses Loschwitz veröffentlicht hatte. Über das Buchhaus Loschwitz konstruierte Fischer-Verlagsleiterin Siv Bublitz eine Kontaktschuldverbindung Marons zu dem weit rechts stehenden Götz Kubitschek, der die „Exil“-Reihe vertreibt – allerdings auch Bücher der Fischer Verlage und die vieler anderer Verlagshäuser.

Monika Maron
Der Rausschmiss
  Außerdem erschien Marons Buch, das angeblich den Bruch provoziert haben sollte, im Frühjahr 2020. Die Trennung verkündete das Frankfurter Verlagshaus erst im August. Bis dahin war noch die Essaysammlung „Was ist eigentlich los“ für 2021 geplant. S. Fischer wollte den Bruch – allerdings aus anderen als den vorgeschobenen Gründen. Maron, hieß es aus den Fischer Verlagen zur Rechtfertigung, sei „politisch unberechenbar“ geworden. Die Autorin wechselte zu Hoffmann und Campe, wobei sie nicht nur das Projekt des Essaybandes mitnahm, sondern ihr gesamtes Werk. Der Satz, dass Bücher ihre Geschichte haben, passt hier auf besondere Weise.

Schon seit ihrem Roman „Munin“, dem vorletzten bei S. Fischer, bemühten sich die Hüter des Guten und Richtigen im Feuilleton, Maron Etiketten wie „neurechts“ oder das alberne Fähnchen „umstritten“ anzuheften. Was sie schreibe, etwa zu Islam und Migration, sei bedenklich und fragwürdig. Diejenigen, die das im Gouvernantenton feststellen, teilen allerdings grundsätzlich nicht mit, was genau ihnen daran nicht passt, warum es ihnen missfällt und wie ihre Argumente lauten. Bedenklich – das stimmt für Marons Texte sogar und zwar im guten Sinn.

Zu ihrer Autorenbiografie gehört ihre schon erwähnte Imprägnierung gegen das Glücksversprechen von Ideologien. Aber auch ihr analytisches Instrumentarium: Bei ihr bestimmt eher das Sein das Bewusstsein. Es ist also kein Wunder, dass sie sich angesichts des Versuchs, die Gesellschaft durch Sprachalchemie nach Plan zu ändern, die Frage stellt, ob sie verrückt ist oder diejenigen, die diesem magischen Denken anhängen.

Durch Marons Texte aus vierzig Jahren zieht sich ihr nüchterner, sentimentalitätsfreier Ton, der immer wieder in Fragen mündet. So gerät sie mit ihren Essays nie in die Falle, die Welt nur aus sich selbst und ihrer Biografie heraus deuten zu wollen – was heute bei vielen jüngeren Autoren und vor allem Autorinnen eher die Regel als die Ausnahme ist. Monika Maron interessiert sich in ihren Texten für die Gesellschaft, also auch für andere Milieus, für andere Überzeugungen, kurzum, sie schreibt als politische Autorin. In Deutschland gehört sie damit zu einer seltenen Spezies. Dazu kommt noch ihre Skepsis, die schon in dem fragenden Titel aufscheint.

Im Land der Manifeste und Ausrufezeichen-Bücher ist allein das schon eine Wohltat.

Monika Maron, Was ist eigenlich los? Ausgewählte Essays aus vier Jahrzehnten. Mit einem Vorwort von Jürgen Kaube. Hoffmann und Campe, 192 Seiten, 22,- €.


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