„Tapfer im Nirgendwo“ präsentiert ein paar wichtige Auszüge aus diesem „Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“ des 18. Deutschen Bundestags vom 7. April 2017 (Drucksache 18/11970). Die Lektüre zeigt, der größte Teil judenfeindlicher Straftaten ist nicht dem rechtsradikalen Spektrum zuzuordnen, sondern wird dem rechtsradikalen Spektrum zugeordnet. Dies ist ein wichtiger Unterschied, vor allem für jene, die sich vor Judenhass schützen müssen. In dem Bericht steht:
„Antisemitische Straftaten zählen in Deutschland zur politisch motivierten Kriminalität (PMK). (…) Eine politische Motivation wird dann angenommen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich die Tat gegen eine Person oder Personengruppe aufgrund deren Nationalität, Volkszugehörigkeit, »Rasse«, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, Behinderung, sexueller Orientierung, ihres gesellschaftlichen Status oder ihres äußeren Erscheinungsbildes richtete. (…) Fremdenfeindliche Straftaten werden heute überwiegend als extremistisch eingestuft. Antisemitische Straftaten gelten generell als extremistisch. Beides wird unter dem Begriff der »Hasskriminalität« zusammengefasst. (…) Innerhalb der PMK wird einerseits nach sogenannten Phänomenbereichen, nämlich »PMK-Rechts«, »PMK-Links«, »PM-Ausländerkriminalität« (PMAK, oder auch PMK-Ausländer) und »PMK- Sonstige«, andererseits zwischen Straftaten generell und der Teilmenge der Gewalttaten unterschieden, denen auch im Fall antijüdischer Straftaten eine besondere Bedeutung zukommt. Der jeweils ermittelte Sachverhalt kann nur einem der drei Phänomenbereiche »PMK-Rechts«, »PMK-Links« oder »PMAK« zugeordnet werden. Ist eine Zuordnung zu diesen nicht möglich, wird der Phänomenbereich »PMK-Sonstige« gewählt.“
„Der PMAK/PMK-Ausländer werden Straftaten zugeordnet, »wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Erkenntnisse über den Täter Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass v. a. die durch eine nicht-deutsche Herkunft geprägte Einstellung des Täters entscheidend für die Tatbegehung war, insbesondere wenn sie darauf gerichtet sind Verhältnisse und Entwicklungen im In- und Ausland oder aus dem Ausland Verhältnisse und Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland zu beeinflussen. Straftaten der PMAK können auch durch deutsche Staatsangehörige verübt werden«.“
„Die Polizei kann nur solche Straftaten erfassen, die sie entweder selbst ermittelt hat oder die ihr von dritter Seite bekannt gemacht werden. D. h. wir haben es auch hier, wie bei allen Formen von Kriminalität, mit dem Hellfeld-Dunkelfeld-Problem zu tun. Eine Ursache ist das sogenannte Underreporting, d. h. viele antisemitische Straftaten werden von den Betroffenen oder Zeugen nicht angezeigt.“
Da mit hoher Wahrscheinlichkeit gerade die judenfeindlichen Äußerungen in Flüchtlingsheimen und Moscheen nicht von den Bewohnern und Besuchern der Räumlichkeiten zur Anzeige gebracht werden, taugt diese Statistik nicht zur Ermittlung von Judenhass unter Muslimen und Flüchtlingen.
„Die Zahl der tatsächlichen antisemitischen Vorfälle wird auch dadurch systematisch unterschätzt, dass bei jedem Vorfall, bei dem es zu mehreren Delikten gekommen ist (z. B. Beleidigung, Raub, Körperverletzung), nur das Delikt mit der höchsten Strafandrohung gezählt wird. Damit gehen alle anderen Delikte nicht in die polizeiliche Statistik ein. Insbesondere bei kollektiven Handlungen, wie Demonstrationen, ist die genaue Anzahl der begangenen Straftaten daher kaum angemessen zu ermitteln.“
In den letzten Jahren waren bei Demonstrationen in Deutschland folgende Parolen zu hören:
„Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!“ / „Juden ins Gas!“ / „Scheiß Juden“
„Die Einordnung einer Straftat als antisemitisch hängt von der Wahrnehmung und von den Kriterien ab, nach denen eine Tat eingestuft wird. Es handelt sich also um das »Problem der Motivklärung«, das die Entwicklung eines Problembewusstseins voraussetzt. Es hängt letztlich von den Erfahrungen, der Sensibilität und dem thematischen Kenntnisstand der ermittelnden Beamten ab, ob eine antisemitische Straftat als solche erkannt und korrekt klassifiziert wird.“
Im Jahr 2015 verurteilte das Wuppertaler Amtsgericht zwei Araber zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten Haft auf Bewährung verurteilt für einen Brandanschlag auf eine Synagoge. Ein weiterer 18-Jähriger Täter wurde nach Jugendstrafrecht zu einer Bewährungsstrafe ohne konkretes Strafmaß verurteilt. Das niedrige Strafmaß begründet das Gericht mit der Feststellung, dass es „keine Anhaltspunkte für eine antisemitische Tat“ gäbe. Die Palästinenser hatten gestanden, im Sommer 2014 Brandsätze auf die Synagoge geschleudert zu haben, erklärten aber, dass sie damit die Aufmerksamkeit auf den Gaza-Konflikt lenken wollten.
Einige Anschläge auf jüdische Einrichtungen werden nicht unter Antisemitismus gefasst, wenn eine „Palästina-Verbindung“ besteht.
„Fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten werden grundsätzlich immer dann dem Phänomenbereich PMK-Rechts zugeordnet, wenn keine weiteren Spezifika erkennbar sind (z. B. nur der Schriftzug »Juden raus«) und zu denen keine Tatverdächtigen bekannt geworden sind. Damit entsteht möglicherweise ein nach rechts verzerrtes Bild über die Tatmotivation und den Täterkreis.“
In der Nacht vom 27. auf den 28. März 2011 wurde die Aachener Synagoge mit einem Hakenkreuz beschmiert.
Im Sommer zuvor war bereits die Außenmauer des jüdischen Friedhofs an der Lütticher Straße verunstaltet worden. Neben Hakenkreuzen wurde auch die Parole „Freiheit für Palästina“ an die Wand geschmiert.
Hakenkreuze und andere Symbole werden nicht nur von rechts verwendet, aber oft ausschließlich rechts zugeordnet. Das heißt: Wenn ein Hakenkreuz dabei ist, wird die Tat als rechtsradikal eingestuft, selbst wenn es von Muslimen kommt.
„Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die PMK-Statistik eine Reihe teils behebbarer, teils reduzierbarer, teils aber auch nicht zu ändernder Schwächen aufweist, so dass sie nur begrenzt zur Beurteilung der Verbreitung von Antisemitismus und entsprechenden Tätergruppen geeignet ist.“
So steht es in dem „Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“. „Nur begrenzt“ ist eine sehr milde Bezeichnung.
Die Aussage, neunzig Prozent aller antisemitischen Straftaten in Deutschland würden von rechts begangen werden, ist nicht belegt.
Im Jahr 2021 erschien der Zweite Bericht der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Dieser Bericht zeigt, dass sich an dem Problem kaum etwas geändert hat.
„So werden antisemitische Straftaten in der PMK-Statistik meistens dem Phänomenbereich „Rechts“ zugeordnet. Die Problembeschreibung zeigt auf, dass die Zuordnung erfolgt, sobald Bezüge zum Nationalsozialismus oder keine weiteren Spezifika erkennbar sind oder keine Täterinnen und Täter bekannt geworden sind. Die Interviews ergaben, dass Straftaten auch von Täterinnen und Tätern mit muslimischem und/oder islamistischem Hintergrund verübt und in dieser Rubrik erfasst wurden. Das wird nach Auffassung der Betroffenen nicht ausreichend deutlich.“
Nicht ausreichend deutlich? Das haben die Betroffenen sehr zurückhaltend formuliert. Hakenkreuze und die Parolen „Tod den Juden“ und „Juden ins Gas“ werden nach wie vor unter politisch motivierter Kriminalität von rechts einsortiert, obwohl das Hakenkreuz mittlerweile auch zum Symbol der Hamas geworden ist und im Sommer 2014 auf einer antiisraelischen Demonstration in Essen von Muslimen Hitler gefeiert wurde.
Der Antisemitismus-Bericht gibt noch eine weitere Erklärung für die große Diskrepanz zwischen der Polizeistatistik und der Erfahrung der Betroffenen:
„Die PMK-Statistik listet im Themenfeld Hasskriminalität auch die antisemitischen Straftaten auf. Allerdings kann die PMK-Statistik nur Auskunft über angezeigte Straftaten geben. Somit fallen antisemitische Vorfälle, die strafrechtlich nicht relevant sind und Straftaten, die erst gar nicht angezeigt wurden, aus der PMK-Statistik heraus. Daher liefert die PMK-Statistik immer nur eine Auskunft über das Hellfeld, also die Zahl der tatsächlich angezeigten Fälle. (…)
Als einen großen Ort antisemitischer Vorfälle nennen die Interviewten die Schule. Hier finden antisemitische Vorfälle auf dem Schulgelände, im Unterricht und in WhatsApp-Gruppen statt. Die Befragten geben an, dass die Vorfälle sowohl von Mitschülerinnen und Mitschülern, die meist dem muslimischen Spektrum zu zuordnen seien, als auch teilweise von Lehrkräften ausgehen. Die Betroffenen trauen sich oftmals nicht, die Vorfälle bzw. das Fehlverhalten oder Nicht-Eingreifen der Lehrkräfte bei der Direktion der Schule zu melden, aus Angst vor möglichen negativen Konsequenzen für das Schulkind. Ein Ausweg besteht dann nur in einem Schulwechsel. Im Bereich Schule gibt es nach Wahrnehmung der Betroffenen ein großes Dunkelfeld.“
Es gibt somit ein großes Dunkelfeld, es gibt problematische Einordnungen antisemitischer Straftaten und es gibt fehlerhafte Datenerfassung bei der Polizei. Es gibt so viele Gründe, nicht zu behaupten, neunzig Prozent aller antisemitischen Straftaten würden von rechts ausgehen; vor allem dann nicht, wenn der Monat Mai 2021 von massiven antisemitischen Straftaten auf offener Straße geprägt war, die von muslimischer Seite aus begangen wurden.
Im Antisemitismus-Bericht von NRW aus dem Jahr 2021 steht weiterhin:
„Zum Anzeige- und Meldeverhalten gaben die Befragten an, dass sie von vielen wissen, die antisemitische Vorfälle nicht melden würden. Als Gründe nennen sie vor allem die Erwartung auf Seiten der Betroffenen, dass eine Anzeige ohne Konsequenzen für die Täterinnen und Täter bleibt und somit eine Meldung nichts ändern würde. Außerdem spielt die Angst vor weiteren Übergriffen und Nachahmungstaten eine große Rolle, auch die fehlende Kenntnis der Rechtslage, ob ein Vorfall strafbar ist oder nicht, sowie Sprachbarrieren und ein zu hoher bürokratischer und zeitlicher Aufwand bei der Polizei tragen zu einem Nicht-Meldeverhalten bei. Hinzu kommt auch fehlendes Vertrauen in staatliche Institutionen sowie schlechte Erfahrungen mit der Polizei.“
Das fehlende Vertrauen in staatlichen Institutionen rührt gewiss auch daher, dass selbst nach massiven Angriffen auf jüdischen Einrichtungen von muslimischer Seite der Ministerpräsident von NRW lieber fehlerhafte Statistiken bemüht, als das Problem endlich anzupacken.
Dieser Beitrag ist zuerst bei Tapfer im Nirgendwo erschienen