Separatisten nehmen Debalzawe ein. So ähnlich klangen die Meldungen gestern Nachmittag. Daran wunderte mich nur: Warum nicht vor dem vereinbarten Sonntag der Waffenruhe?
Mit welcher anderen Absicht sollten zwischen der Minsker Vereinbarung und deren Inkrafttreten mehrere Tage vergehen als mit der, Gebietsgewinne zu konsolidieren? Ich weiß nicht, welche Seite diesen Zeitverzug gefordert hat. Spielt auch keine Rolle, denn er wurde akzeptiert. Wir dürfen davon ausgehen, dass die ukrainische Regierung wie die Machthaber im Osten ihren Ausgangsvorteil vergrößern wollten. Und wieder einmal scheint sich Kiew verrechnet zu haben.
Die Medien und das Internet sind voll von Ukraine-Berichten – oder besser: von Spekulationen? Alles dreht sich um das Militärische, wenig um die Zivilbevölkerung. So gut wie nichts um die politischen Vorgänge innerhalb der Ukraine. Um Putins Pläne zur Ausdehnung des russischen Machtbereichs geht es in vielen Beiträgen bis hin zur Wiederherstellung der Sowjetunion. Nicht weniger werden Indizien für amerikanische Strategien zur Ausdehnung der NATO bis zur Krim verbreitet. Viel Zeit muss aufwenden, wer dem noch halbwegs folgen will.
Das lohnt nicht, denn es handelt sich fast nur um Wiederholungsschleifen mit mehr scheinbaren als tatsächlichen News. Durchsetzt mit Bilddokumenten, die sich nur zu oft als falsch herausstellen. Da sind Panzerfotos, die Jahre alt und ganz woanders aufgenommen worden sind. Bilder von Raketen, die identisch in den verschiedensten Weltgegenden beweisen sollten, wer die Bösen sind.
Gerade der aufmerksame Nachrichten-Beobachter muss sich fragen: Wem soll ich hier eigentlich noch was glauben? Von Tag zu Tag mehr drängt sich mir das Gefühl auf. Hier stabilisiert sich ein labiler Zustand. Weil die meisten, wenn nicht alle Hauptakteure in Kiew und im Osten der Ukraine an diesem Halbkrieg mehr interessiert sind als an seiner Beendigung. Hörten die Kämpfe wirklich auf, für wen alles würde dann nicht gleichzeitig auch mit ihrer Machtausübung Schluss sein? Kehrte der Osten zurück in den Staatsverband, müssten die selbsternannten Obristen ins Zivilleben zurück. Entsteht im Osten eine autonome Region, ein Teilstaat oder eine andere russisch beaufsichtigte Ordnung, gilt dasselbe. In der Kiewer Ukraine müsste sich die Regierung den überfälligen Reformen zuwenden. Die Freiwilligenverbände außerhalb der ukrainischen Armee würden sich dieser dann erst recht nicht eingliedern. Der Regierung in Kiew würden Freischar-Kommandeure und ihre Kriegsherrn unter den Oligarchen sagen, wo es lang geht und nicht umgekehrt.
Das wissen die Militärs und Geheimdienste in Moskau und Washington natürlich nur zu gut. Es ginge nicht mit rechten Dingen zu, wären sie in das Handeln aller drei Kräfte nicht involviert. Und dann gibt es jene, die es unter solchen Umständen immer gibt: die Kriegsgewinnler. Waffen, Ausrüstung, Essen, Kleidung – alles was es auch oder gerade in einem Halbkrieg braucht, liefern professionelle, illegale Geschäftemacher mit exorbitanten Gewinnmargen auf einem florierenden Schwarzmarkt: mit den jeder Mafia eigenen ebenso zuverlässigen wie gnadenlosen Regeln. Für die Herrschaft des Rechts ist in der real existierenden Ukraine kein Platz. Ruft Poroshenko das Kriegsrecht aus, bleiben von Recht, Freiheit und Demokratie nicht einmal Reste.
Es braucht wenig Phantasie auszurechnen, dass die Zahl der am Weiterexistieren des Halbkrieges Interessierten dramatisch höher sein muss als die der Akteure, die wirklich ein Ende, eine Lösung wollen. Dabei habe ich noch gar nicht von denen gesprochen, die politisch die Strippen ziehen. In Russland profitiert Putin in seiner Beliebtheit beim Volk. Obama kann mit starken Worten oder auch Waffenlieferungen den Republikanern etwas entgegensetzen. Innerhalb der EU sind nur Briten, Polen und die baltischen Staaten zum Handeln bereit. In den anderen Ländern müssen die Regierungen Mehrheiten ihrer Völker gegen Waffenlieferungen und militärische Einsätze befürchten. Schon die Sanktionen der EU finden in vielen Mitgliedsländern Widerstand, weil niemand Arbeitsplatzverluste und Auftragsrückgänge im eigenen Land akzeptieren will. Und irgendwann stehen überall Wahlen vor der Tür. Möglichst nichts oder nicht viel politisch tun, ist der größte gemeinsame Nenner.
Wir sind in der Ukraine wahrscheinlich auf dem Wege, uns an einen Zustand zu gewöhnen wie im Nahen Osten und in manchen Teilen Afrikas: an den Halbkrieg in der Ukraine als „Normalzustand“.
Bis eines Tages Russlands Oligarchen Putin aus der Macht entfernen. Und Europa aufwacht. Wohl eher in dieser Reihenfolge als umgekehrt. Leider.