Wer in den Bayerischen Wald von der A 3 bei Deggendorf hinauf fährt, erlebt schon auf der Höhe bei Schöfweg an der B 533 ein wunderbares Gipfelpanorama. Arber, Falkenstein, Rachel oder Lusen locken. Doch statt Erholungs- und Wanderparadies herrscht hier wie in anderen deutschen Touristenregionen staatlich verordnete Tristesse.
Am ersten warmen Wochenende vor dem 1. Mai sammelt sich ein Rudel Motorradfahrer an der Tanke von Spiegelau. Die Sonne hat die niederbayerischen Biker in die Bergstraßen hinausgetrieben. Man könnte denken, hier unter der gelben Muschel geht was, trotz Lockdown. Schon ein Gespräch mit Tankstellenchef Sandro Hilpert sorgt für rasche Erdung. Der 48-jährige betreibt die Station in zweiter Generation, seit 45 Jahren ist sie im Familienbesitz. Der Niederbayer mag sich zwar nicht groß beschweren, „aber Gastronomie, Hotel- und Tourismusbranche geht’s schon sehr schlecht.“ Das merkt er selbst am Umsatz seiner Pachttanke, der um 32 Prozent zurückgegangen sei. Dennoch schlägt ihm das gesellschaftliche Klima immer mehr aufs Gemüt. Er fühle sich inzwischen nicht mehr frei. Ob Internet, Konten oder Einkauf – immer mehr Kontrollen und Überwachung. „Jetzt in der Pandemie wird es noch schlimmer.“ Verschärfte Polizeikontrollen mit Großaufgeboten an der österreichisch-bayerischen Grenze kannten die Waidler, wie sich die Einheimischen hier nennen, seit Jahrzehnten nicht mehr.
Mitten im Ort spürt auch Elke Döringer die Dramatik des Untergangs in ihrem Papierwarengeschäft. Ihr Laden mit Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und Schreibwaren darf noch öffnen, weil er „systemrelevant“ sei, aber er ist auch so etwas wie eine Informationsbörse der Bevölkerung. „Die Leute sind im Alltag regelrecht verunsichert und gedrückt“, beschreibt Elke Döringer die Lage im Ort. Sie betreibt ihren Schreibwarenladen seit 41 Jahren und ist so etwas wie ein Sensor. „Darf ich noch ins Geschäft gehen? Mit Test oder ohne? Was ist überhaupt noch erlaubt?“ Angst und Unsicherheit beherrschen das Leben. Aber vor allem: „Uns fehlen die Ferien-Gäste, denn wir leben vom Tourismus.“ Auch sie hat gut 40 Prozent Umsatzverlust. Die großen Gewinner seien jetzt Online-Händler wie Amazon oder die Super-Märkte. „Ich habe schon schlimme Zeiten erlebt, aber viele werden noch pleite gehen“, befürchtet die gut informierte Geschäftsfrau. Die Verantwortlichen hat sie auch ausgemacht: „Die Politiker haben ja keine Sorgen, ob die Wirtschaft herunterfährt – sie leben in ihrer Blase und werden von uns Steuerzahlern auch noch alimentiert!“
Politisch aus dem Kanzleramt von Angela Merkel festgelegte Inzidenzwerte legen selbst ländliche Gebiete wie den Bayerischen Wald mit geringer Bevölkerungsdichte lahm. Ab einer Inzidenz von 165 positiven Tests auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen, so hat die Kanzlerin beschlossen und der Bundestag mehrheitlich die Hand dazu gehoben, sollen Schulen schließen. Schon ab 100 verhängen die Regierenden Ausgangssperren und noch mehr Schließungen. Im Landkreis Freyung-Grafenau, zu dem auch Spiegelau gehört, notieren die RKI-Wächter Ende April eine Inzidenz um die 240. Doch was das heißt, machen sich die wenigsten klar, schon gar nicht Politik und Medien. Unter den 78.362 Einwohnern des Landkreises gab es lediglich 330 aktive Corona-Fälle, das sind jedoch nur rund 0,4 Prozent der Bevölkerung. Wie in den Großstädten finden sich auch hier überdurchschnittlich viele Virus-Fälle in Gemeinschaftsunterkünften von Asylbewerbern und in Großfamilien von Migranten – das versuchen selbst CSU-Entscheidungsträger vor Ort schön zu reden. Hinzu kommt: Der Inzidenzwert im Landkreis wird künstlich hochgerechnet, weil er keine 100.000 Einwohner hat. Die Inzidenz müsste daher Ende April deutlich unter 200 liegen oder jetzt im Mai schon unter 100 wie in vielen Großstädten mit mehreren einhunderttausend Einwohnern.
Dennoch wird das gesellschaftliche Leben radikal heruntergefahren und kontrolliert, selbst in einem Landkreis wo nur 80 Menschen auf einem Quadratkilometer leben. Tourismus in Hotels, Fewos, Gastronomie und Kultur ist praktisch verboten. Kein Museum hat geöffnet, der berühmte Baumwipfelpfad oder das Tierfreigelände im Nationalpark bleiben geschlossen. Selbst das Waldspielgelände für Kinder war monatelang gesperrt. Dabei sind im Nationalpark des Bayerischen Waldes wahrscheinlich Wildschweine und Zecken für Erholungsuchende größere Gefahren als Viren. Doch so ist das überall in Deutschland. Merkels Corona-Zahlen können gar nicht düster genug aussehen.
Wie in anderen Urlaubsregionen muss daher auch die Tourismusbranche tief im Bayerwald zwangsweise Corona-Tiefschlaf halten. Die ohnehin schon durch wirtschaftlichen Niedergang und Arbeitslosigkeit gebeutelte Region wirft das zurück. Aber diese Kollateralschäden gehen die Regierenden in München und Berlin wohl bewusst ein. Markus Söder und Angela Merkel von der Union nehmen, anders als die Schweiz oder Schweden, durch eine Pandemie-Politik des harten Lockdowns nachhaltige Schädigungen von Volkswirtschaft, Gesellschaft und Kultur in Kauf.
So herrscht halt staatlich angeordnete Stille im Bayerischen Wald. Unter der Woche sind bei schönstem Sonnenschein und weiß-blauem Himmel die Wanderrouten am Rachel oder Lusen so gut wie menschenleer. Höchstens ein paar Radler treten sportlich in die Pedale, ab und zu wagen sich einige Jugendliche auf die Berge, vereinzelte Rentner drehen mit Stöcken eine Runde und gegen Abend führen Einheimische ihre Hunde aus. Dabei wäre jetzt beste Touristensaison für Berufstätige ohne schulpflichtige Kinder oder aktive Rentner. Die Erholungsorte von Spiegelau bis Grafenau sollen jedoch im Winterschlaf bleiben.
„Zum Leidwesen der Tageswanderer aus der Umgebung sperrt noch der Nationalpark ein Teil seiner Parkplätze“, klagt Albert Würzbauer. Er betreibt in Spiegelau „Alis“ Sportladen mit Weingeschäft. Auch der 49-jährige findet große Teile der Corona-Politik „unangemessen und ganz fürchterlich“. Seinen Wein darf er verkaufen, aber Sportartikel sind strengstens verboten. Obendrein bekommt er, wie andere mit Zusatzgeschäft, für Umsatzausfälle keine staatlichen Hilfen. Dabei kauften die wenigen Kunden aus Angst vor Geschäften auch ihren Wein meist nur noch im Supermarkt ein. Tourismus gebe es ohnehin seit Monaten keinen mehr.
Was im Sommer kommt, weiß nicht einmal Angela Merkel in ihrem Kanzleramt. Vielleicht dringt zu Pfingsten der Heilige Geist dorthin vor und macht in Deutschland ein paar Tore auf.
Lang, lang ist’s her: Da eröffnete im Jahre 1997 Bundeskanzler Helmut Kohl in Spiegelau die Glasstraße. Eine neue deutsche Ferienstraße, die von Neustadt an der Waldnaab über Spiegelau bis nach Passau führt. Sie sollte entlang dieser touristischen Fahrtroute die Vergangenheit und Gegenwart der Glasherstellung zeigen. Rund ein viertel Jahrhundert später sind die meisten Glaswerke stillgelegt und ihre Arbeiter entlassen. Bestenfalls ein paar Glasmanufakturen, Werksverkäufe oder Museen wie in Spiegelau oder Frauenau halten die Glastradition für Touristen noch aufrecht.
Riedel-Glas schloss die Fabriktore seiner traditionsreichen Kristallwerke in Spiegelau und Riedlhütte 2008/9 und sein Nachtmann-Werk in Frauenau 2018/19. Es waren die größten Arbeitgeber in der Region. Produziert wird heute an anderen Riedel-Standorten. Übrig geblieben ist lediglich ein Werksverkauf, doch der hat wegen Corona seit Monaten geschlossen, wie so viele Geschäfte und Cafés der Region.
In der Bayerwaldgemeinde Spiegelau mit seinen 33 Ortsteilen leben noch 3.900 Bürger – meistens vom Tourismus. Bürgermeister Karlheinz Roth von der CSU findet, es gebe intelligentere Lösungen in der Corona-Politik für den Tourismus, der „jetzt klare und verlässliche Öffnungsperspektiven braucht.“ Die Bundes- und Landespolitik müsse der Branche Vertrauen entgegenbringen und sie nicht bevormunden. Schließlich könne der Tourismus Hygienekonzepte gut umsetzen. „Wir hatten im vergangenen Jahr keinen bekannten Corona-Fall in Hotels, Ferienwohnungen oder Gaststätten.“ Roth kritisiert: „Warum Ferienwohnungen schließen mussten, kann ich überhaupt nicht verstehen.“ Er mahnt zudem die Regierenden: „In einem freiheitlich-demokratischen Land können sie wachsenden zivilen Ungehorsam nicht durch noch mehr staatliche Autorität beantworten.“
Damit steht er nicht allein: Jochen Stiegelmeier, Vorstand Nationalpark-Partner Bayerischer Wald und Eigentümer des Landhotels „Tannenhof“, kann über die Impfgipfel des Bundes nur noch den Kopf schütteln. Die seien „mehr als enttäuschend“. Denn: „Es gibt für unsere Branche keine mittelfristige planbare Perspektive.“ Gäste müssten schließlich erst einmal wieder reservieren, erst dann können auch Gastronomie und Hotels ihrerseits ordern und das Personal wieder einstellen.
Dass die Tourismus- und Gastrobranche bei Kanzlerin Merkel und den Ministerpräsidenten ganz weit hinten steht, hat Stiegelmeier schon mitbekommen. „Unsere Regierung ist wenig mutig und die Staatshilfen müssen bitter zurückgezahlt werden.“
Berlin ist sich offensichtlich der schlimmen Lage im Land nicht bewusst. „In der Ferien-Hotellerie haben wir im Schnitt einen Umsatzverlust von gut 90 Prozent“, schlägt der Spiegelauer Hotelwirt Alarm. Selbst der Außer-Hausverkauf in der Gastronomie auf dem Land laufe längst nicht so wie in den Großstädten, bestenfalls nur am Wochenende. Dieses kleine Geschäft decke höchstens die Unkosten.
Stiegelmeier sieht daher dramatische Folgen für die deutsche Volkswirtschaft: „Wer permanent Verlust macht, kann auch keine Rücklagen für Investitionen in der Zukunft bilden.“ Damit gehen der Wirtschaft Aufträge verloren. Denn das Aufholen der Verluste wird auch in diesem Pandemiejahr kaum möglich sein.
Auch seine Kollegin Annette Trzewik, Eigentümerin des Ferienhauses „Jägerfleck“, kann überhaupt nicht verstehen, warum sie direkt am Nationalpark Bayerischer Wald, wo Fuchs und Luchs durch die Nacht streifen, ihre acht Ferienwohnungen nicht an Erholungssuchende vermieten darf. „Die Gäste wären doch Selbstversorger und gehen sich im freien Gelände wie im großen Haus mit allen Hygiene-Maßnahmen aus dem Weg.“ Familien hätten hier viel mehr Platz als im Gedränge der Großstadt. „Aber die Regierenden in Berlin und München sind eben wirklichkeitsfremd.“ Ohnehin deckten die sogenannten Überbrückungshilfen aus ihrer Sicht nur das Allernotwendigste ab. „Wir müssen fast alle unsere Rücklagen angreifen oder Bankkredite aufnehmen“, warnt Annette Trzewik vor den Folgen.
Immerhin gibt es noch Hoffnung. Metzgermeister Robert Schleinkofer kann nicht klagen. Sein Handwerk bleibt gefragt. Würste, Steaks und Geselchtes gehen weg wie sein Fleischkäse in warmen Semmeln. Auch Sandro Hilperts angeschlossener Getränkemarkt an seiner Tankstelle läuft. Denn: „Getrunken wird immer.“ Außerdem hat er auch noch etwas Glück – die Grenzen zu den tschechischen Nachbarn sind für Normalreisende geschlossen. Der Tankchef lächelt: „Die Tabaktouristen kaufen wieder bei mir.“
Alle Fotos © Olaf Opitz