Zur Frage der Freiheitsrechte künftiger Generationen
Oswald Metzger
Im Klimaschutz hält das BVerfG die Freiheitsrechte künftiger Generationen hoch. Gilt das auch beim Thema „Generationengerechtigkeit“ im Sozialstaat?
Am 29. April verkündete das Karlsruher Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seine spektakuläre Klimapolitik-Entscheidung, mit der das höchste deutsche Gericht aus Gründen des Freiheitsschutzes künftiger Generationen den Gesetzgeber zur Verschärfung und Präzisierung des nationalen Klimaschutzgesetzes aufforderte.
Obwohl das Gericht für die Konkretisierung der CO2-Minderungspfade eine Frist bis zum 31. 12. 2022 einräumte, entwickelte sich unmittelbar nach der Entscheidung im politischen Berlin ein geradezu hektischer Überbietungswettbewerb um den Titel der besten Klimaschutzpartei. Schließlich gilt Klimaschutz gemeinhin als Kernkompetenz der Grünen, die derzeit in einem ausgesprochenen demoskopischen Hoch schweben und gar vom Kanzleramt für Annalena Baerbock träumen. Da wollten und konnten SPD und Union doch nicht einfach abtauchen. Sie wollen das grüne Megathema möglichst schnell abräumen, um Handlungskompetenz vorzuweisen. Doch ob das gelingt, ist sehr fraglich. Denn nach der Corona-Dominanz der vergangenen 16 Monate stricken bereits seit Monaten genügend Akteure aus dem grünen Mainstream am Agenda-Setting für einen Klima-Wahlkampf, der auf grüne Rechnung einzahlt. Bemerkenswert jedenfalls, dass innerhalb von weniger als zwei Wochen per Kabinettbeschluss auf ein Urteil des Verfassungsgerichts reagiert wurde. Der Vorgang ist bisher ohne Beispiel. Doch genau das passierte am 12. Mai im Bundeskabinett. Der Bundestag macht das hohe Tempo mit, indem er innerhalb der kommenden beiden Sitzungswochen das verschärfte Klimaschutzgesetz beschließen will.
Bemerkenswert ist, welche Analogieschlüsse der Präsident des höchsten deutschen Sozialgerichts in einem Interview mit dem Handelsblatt aus der Klimaschutz-Entscheidung der Verfassungsrichter zieht. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts in Kassel, überträgt das Thema Generationengerechtigkeit auch auf die Ausgestaltung der Sozialpolitik: „Hier kann man ohne Weiteres Parallelen zur sozialen Sicherung ziehen, etwa wenn wir an die künftige Finanzierung der Renten oder auch anderer Sozialleistungen denken.“ Und weiter: „Diesen Grundgedanken, den kann man natürlich auch anwenden auf Staatsverschuldung, auf die Einschränkung finanzieller Spielräume künftiger Generationen.“ Und noch konkreter: Das Rentensystem „muss so ausgestaltet sein, dass auch in zehn, 20 Jahren die dann junge Generation noch Raum zum Atmen hat.“ Schlegel sieht den größten Handlungsbedarf im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung: „Während wir in der Rentenversicherung zumindest eine Diskussion über demografische Verwerfungen führen, findet sie im Gesundheits- und Pflegebereich so gut wie gar nicht statt.“
Vollkommen zu Recht stellt der Präsident des Bundessozialgerichts diese Nachhaltigkeitsfragen zur Finanzierung des Sozialstaats. Doch fast alle Parteien, die jetzt so engagiert für die Generationengerechtigkeit beim Klimaschutz kämpfen, scheren sich keinen Deut um die langfristige Tragfähigkeit der Sozialstaat-Finanzierung. Dieser Sozialstaat kann für sie nie üppig und großzügig genug ausgebaut sein. Man muss sich nur in die bereits vorliegenden Wahlprogramme der Parteien vertiefen, um am Verstand der Wohlfahrts-Politiker zu zweifeln. Die Frage nach der Rechnung, die den Bürgerinnen und Bürgern für das sozialpolitische Wolkenkuckucksheim präsentiert werden muss, wird nie gestellt.
Ein Paradoxon in der Nachhaltigkeitsfrage beim Klimaschutz und der staatlichen Sozialpolitik sticht ebenfalls ins Auge: Während die Sozialstaatsfinanzierung tatsächlich in alleiniger nationaler Verantwortung nachhaltig geregelt werden kann, spielt selbst die strikteste deutsche CO2-Minderungspolitik für das globale Klima und seine Folgen für unser Land nur eine marginale Rolle. Denn wenn Klimapolitik nicht international mit effizienten marktwirtschaftlichen Preisinstrumenten (Emissionszertifikate-Handel) vorangetrieben wird, haben die künftigen Generationen im Land trotzdem unter den Folgen der globalen Erwärmung zu leiden. Aber sie leiden womöglich doppelt: Denn was nützt der deutschen Volkswirtschaft ein CO2-Ausstiegspfad, der Arbeitsplätze mit allen fiskalischen Negativeffekten in weniger „klimaschutzsensible“ Länder verlagert? Sinkender Wohlstand ist die Folge, der mit höheren Steuern und Abgaben vor allem die demografiebedingt kleineren jüngeren Kohorten treffen wird! Schon heute wird in Deutschland viel zu wenig darüber reflektiert, warum die Grüne Energiewende unserem Land vor allem ein Alleinstellungsmerkmal verschafft hat: Deutschland kassiert bei den Privathaushalten inzwischen die höchsten Strompreise der Welt. Auch die Wirtschaft leidet unter hohen Industriestrompreisen. Auf dem doppelten Ausstiegspfad aus Kohle und Atomstrom folgt Deutschland bisher auch niemand. Doch an der deutschen Klimaschutzpolitik soll das Weltklima genesen? Hochmut kommt vor dem Fall!
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