Die neunjährige Tochter weint durchgehend fünfzehn Minuten lang, ihre Mutter ist zunächst sprachlos, ein Nachbar – davon alarmiert – derart aufgebracht, dass es zu einer Rangelei gekommen sein soll. Willkommen an einem Freitagvormittag irgendwo mitten in Braunschweig; Deutschland lebt im Lockdown und in der Stadt Heinrichs des Löwen wird eine von den Lockdown-Maßnahmen betroffene alleinerziehende Mutter samt kleiner Tochter wegen Mietschulden vom Vorjahr zwangsgeräumt.
Die beiden kommen gerade vom Einkaufen, da ist das Wohnungsschloss schon ausgestauscht, ihre Katzen sind in der für die Familie nicht mehr erreichbaren Wohnung verschlossen. Der Vertreter einer Stiftung, der das Haus gehört, sagt später entschuldigend, er hätte zu dem Zeitpunkt aber bereits den Tierschutz angerufen und informiert, um die eingeschlossenen Katzen abzuholen. Die Mutter und die Tochter waren keine Dreiviertelstunde außer Haus, und als sie zurückkamen, waren sie schon obdachlos. Im Hausflur ist noch der Gerichtsvollzieher anwesend und der Stiftungsvorsitzende als Vermieter.
Die Mutter sieht keinen anderen Ausweg, als für sich und ihre Tochter Hilfe zu beantragen, die ihr auch gewährt wird. Kindergeld und Zahlungen für die Tochter werden vom Job-Center üblicherweise angerechnet. Die Miete für die Wohnung wird jetzt von Mitte 2020 an regelmäßig an den Vermieter direkt vom Job-Center überwiesen. Zwei Mieten – der Stiftungsvorsitzende spricht von drei Mieten – aus dem ersten Lockdown sollen allerdings offen geblieben sein, ebenso, wie eine – laut eines weiteren Mitbewohners strittige – Nebenkostenabrechnung.
Diese säumigen Zahlungen türmen sich über mehrere Klagen der Stiftung hinweg für die Frau auf und führen letztendlich dazu, dass die Stiftung als Vermieter per Gericht eine Zwangsräumung durchsetzen kann. Und das mitten im Lockdown bei einer Frau, die beruflich vom Lockdown betroffen ist und die samt weinender Neunjähriger vor der verschlossenen Tür ihres Zuhauses steht, in dem die Familie seit schon zehn Jahren lebt. Eine Wohnung, deren Miete regelmäßig seit Mitte 2020 vom Amt direkt aufs Konto der Stiftung als Vermieter überwiesen wird.
Aber um was für eine Stiftung handelt es sich? Das ist hier von besonderem Interesse, denn besagte Stiftung als Hauseigentümer nennt sich „Stiftung Kleiderversorgung Braunschweig“ – eigentlich eine alteingesessene Stiftung, die im letzten Jahr ihr Hundertjähriges feierte. Auf der Website heißt es unter der Rubrik: „Die Leistungskraft der Stiftung stärken“: „So können z.B. alte oder gesundheitlich beeinträchtigte Menschen ohne Erben und Nachfolger, die nicht mehr in der Lage sind, ihr Hauseigentum oder ihr Geschäft selbst zu verwalten, dieses der „Stiftung Kleiderversorgung“ zur weiteren Nutzung und zur Förderung wohltätiger Zwecke übereignen.“
Tatsächlich haben das wohl schon Braunschweiger getan – die Stiftung verwaltet Häuser in guter Lage und generiert die entsprechenden Mieteinnahmen. Laut Website besteht das Stiftungsvermögen aus vier Wohnhäusern in der Braunschweiger Innenstadt – also beste Lage – und Wertpapieren. Im Jahr 2006 beispielsweise wurde so ein Gebäude – in bester Braunschweiger Lage mit Blick auf das Schloss – der Stiftung übertragen.
Die Stiftung fördert einen Ruderverein, der beim Kauf eines Zweiers unterstützt wird, eine Reha GmbH bekommt Gartenmöbel und eine Maschine für die Cafeteria, ein Sportverein wird eingekleidet, ein Nachtlauf ebenso wie ein weiterer Sportverein. Die Fördersummen liegen überschaubar bei beispielsweise 500 Euro für den Nachtlauf. Auf der Website kann ein Föderantrag heruntergeladen werden.
Laut Satzung sitzen sieben Personen im Stiftungsvorstand. Der Stiftungsvorsitzende ist gleichzeitig Geschäftsführer, eine weitere Person sein Stellvertreter. Die Herren und eine Dame sind überwiegend noch Nachkommen oder Betreibende von Unternehmungen, die traditionell mit Bekleidung und Wäsche zu tun haben, der Zusammenhang also durchaus gegeben. Der Stiftungsvorsitzende selbst war Unternehmer eines Bekleidungsgeschäftes, das schon Generationen vor ihm betrieben haben.
Seine Aufwandsentschädigung liegt nach eigenen Angaben über dem, was die von der Zwangsräumung betroffene Frau von der Arbeitsagentur erhält.
Zufälligerweise wohnt nun der Sohn des langjährigen Braunschweiger Oberbürgermeisters und ehemaligem niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski im Haus der Stiftung, wo es zur Zwangsräumung kam. Und Robert Glogowski wurde von seiner Mitbewohnerin als Zeuge rausgeklingelt, die er dann im Hausflur mit der weinenden Tochter vorfand, dem Gerichtsvollzieher und dem Stiftungsvorsitzenden einer Stiftung, die sich ansonsten um Bedürftige kümmert, hier aber in der Rolle des zwangsvollstreckenden Vermieters auftritt.
Die Mutter erinnert sich an eine Rangelei und Schubserei mit Glogowski, der Stiftungsvorsitzende will davon nichts wissen, es wäre nur der Arm ausgestreckt worden im Hausflur, weil Robert Glogowski ohne Maske zu nahe herangekommen sei. Der allerdings hat eher die Vermutung, dass er vielleicht als Zeuge weggedrängt werden sollte.
Nach dem Gespräch mit dem Stiftungsvorsitzenden lässt sich zusammenfassen: Die Miete der Frau seit geraumer Zeit regelmässig vom Amt bezahlt, aber dennoch wurde die Zwangsvollstreckung durchgeführt. Der Stiftungsvorsitzende bittet noch darum, mit seinem Anwalt zu sprechen, der verweist auf die vielen Aufforderungen – auch vom Gericht – an die Frau, ihre Dinge doch zu klären, was diese allerdings versäumt hätte.
Die Tochter wurde von der Mutter vorübergehend bei einer guten Bekannten untergebracht, währenddessen möchte die Mutter sich um die alte Wohnung kümmern. Denn diese wurde ihr dann doch noch in einer Art Gnadenfrist bis Freitag wieder übergeben, nachdem – so die Frau – der Gerichtsvollzieher den Stiftungsvorsitzenden noch einmal im Hausflur zur Seite genommen hatte.
Robert Glogowski sagt im Gespräch noch abschließend: „Ganz gleich, was ist, so etwas darf man nicht machen, jedenfalls nicht in Gegenwart eines weinenden Kindes. Das ist furchtbar. Das ist prägend und eine Form von Missbrauch. Die Corona-Maßnahmen sind ja schlimm für uns alle, aber Menschen die versuchen, auf dem Rücken der Schwächsten in dieser Pandemiezeit Nutzen zu ziehen, das ist verwerflich.“