Die Gießener Allgemeine ist eine recht kleine Zeitung mit vergleichsweise geringer Auflage. Aber was die Redaktion jetzt abgeliefert hat im Zusammenhang mit einer zunehmenden Eskalation der Gewalt und der Unsicherheit rund um die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung (HEAE), ist bemerkenswert: Solche umfänglichen Investigativreportagen zeichneten vor langen Zeiten einmal das Hamburger Magazin Spiegel aus. Aber wahrscheinlich ist das heute so: In der Provinz gibt es noch verlässlichen und manchmal eben noch nicht politisch kontaminierten Journalismus, der sich am Bedarf des Lesers und nicht an der polit-pädagogischen Haltung des Autors orientiert.
Die Zustände in besagter HEAE sind von Gießen aus kaum lösbar, wie TE im Gesprächs mit der Pressestelle des für die HEAE zuständigen Regierungspräsidiums erfährt. Entscheidend für eine Verdopplung der Bewohner der Einrichtung auf knapp 2.000 Personen – von denen ein wachsender Teil offenbar gewaltbereit und nicht kooperativ sein soll – ist das „Geordnete Rückkehr Gesetz“ von 2019, erfahren wir da. Außerdem seien Einschränkungen rund um die Corona-Pandemie für die Bewohner der HEAE erheblich.
Der polizeiliche Blick auf die negative Entwicklung innerhalb der HEAE stellt sich in nüchternen Zahlen folgendermaßen dar: 2018 gab es 330 Einsätze, 2019 musste die Polizei 451 mal erscheinen und 2020 waren es bereits 905 Einsätze im Jahr, also fast drei Einsätze am Tag.
Aber was bedeutet das konkret? Das heißt, dass ein unterschiedlich starkes Aufgebot von Polizisten drei Mal am Tag zu einem so genannten Ad-hoc-Einsatz in der HEAE gerufen wird. Einsätze, vor denen die Beamten nur vage ahnen können, was sie nach Ankunft erwartet. Es geht hier um Schnelligkeit und erst vor Ort um Ermittlung, Sondierung und Beruhigung der Lage.
Im TE-Gespräch zu den Ereignissen in Gießen erläutert eine Ex-Polizistin, die anonym bleiben will, wie „nervig“ solche Fahrten sind, weil die Polizei speziell auch in Gießen irgendwann kapiert hätte, dass die Ursachen vor Ort gar nicht bekämpft werden können, sondern sich diese Auseinandersetzungen etabliert haben. Das Aggressionspotenzial sei hier in keiner Weise unter Kontrolle. Dazu gehörten auch die „Zusammenrottung von Bewohnern gegen die Polizei, dort, wo Maßnahmen gegen Einzelne durchgesetzt werden sollten“. Das führt und führte auch andernorts immer wieder zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen Abschiede-Verpflichteten und Polizei wie beispielsweise in Ellwangen.
Zuständig für die Einsätze in der HEAE ist die Polizeiwache Gießen-Nord. Und hier hatten sich vor wenigen Wochen fünf Polizisten zusammengetan, die offensichtlich die Nase voll hatten von diesen Blaulicht-Einsätzen. Die Beamten suchten jetzt die Öffentlichkeit, um aufmerksam zu machen, und möglicherweise auch, um eine Verbesserung der Lage zu erreichen.
Bemerkenswert hier zunächst, dass sich der für diese Beamten zuständige Polizeipräsident Bernd Paul nicht hinter seine Leute stellte. Ihm mag die unkonventionelle Vorgehensweise seiner Beamten ein Dorn im Auge gewesen sein. Jedenfalls bestreitet er die besondere Belastung gegenüber der Zeitung. Die angesammelten Überstunden wären doch beispielsweise im Präsidium Mittelhessen höher.
Hier bekommt der Begriff des „Nordafrikanischen Intensivtäters“, der vor einigen Jahren für mediale Empörung sorgte, übrigens seine direkte Entsprechung. Denn tatsächlich sind auch in Gießen hauptsächlich Straftäter aus Marokko und Algerien auffällig. Der Polizeipräsident spricht von einer „überproportional auffällige(n) Gruppe von Wiederholungstätern.“ Menschen ohne Bleibeperspektive, die das ab September 2019 gültige Geordnete Rückkehr Gesetz bis zu 18 Monate in den Sammelunterkünften hält – die aber auf einen Staat treffen, der nicht dafür sorgt, dass die anstehenden Abschiebungen und Rückführungen auch wirklich stattfinden. Der Staat ist handlungsunwillig – und die Intensivtäter wissen das wohl längst.
Viele der Nordafrikaner sind auch aus oder über Frankreich und Belgien nach Deutschland gekommen. Frankreich beispielweise hat sie nicht nur gehen lassen, sie wurden teilweise von Spanien über Frankreich in Gratis-Bussen bis an die nicht kontrollierte deutsche Außengrenze gefahren, TE hatte schon früher darüber berichtet. Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Kanzlerkandidat 2021 der Union beispielsweise bestand seit Beginn der Massenzuwanderung 2015 darauf, dass die NRW-Außengrenzen geöffnet bleiben – die Folgen sind bekannt und stellvertretend auch in Gießen zu besichtigen.
Einige der Nordafrikaner hatten in Frankreich und Belgien in der Illegalität gelebt und damit quasi in rechtsfreien Räumen. Diese Personen haben „keinen Respekt vor niemandem“ erklärte der mittelhessische Grünen-Politiker Klaus-Dieter Grothe gegenüber der Gießener Allgemeine. Weiter weiß er, dass 2020 dreizehn Algerier abgeschoben wurden, davon aber nur zwei nach Algerien.
Für den Polizeipräsidenten wiederum ist klar: „Die werden dreimal erwischt, aber es gibt keine Konsequenzen.“ Oft gäbe es nach Abschluss der Ermittlungen nicht einmal einen Untersuchungshaftbefehl. Dieses Justiz- und Staatsversagen ist bundesweit so fundamentiert, das es für den Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, der das alles aufgeschrieben und veröffentlicht hatte, fast schon umstandslos zum Bestseller „Rechtsstaat am Ende“ führte.
Die fünf Gießener Beamten, die jetzt an die Öffentlichkeit gegangen sind, wünschen sich unter anderem eine feste Wache direkt in der Einrichtung. Das allerdings hält wiederrum der Polizeipräsident für überflüssig. Warum er das findet und es dem Kollegen der Gießener Allgemeinen Zeitung freimütig erzählt, macht allerdings ein wenig sprachlos:
Spätestens mit den warmen Temperaturen und einem beendeten Lockdown sei das polizeibekannte Klientel wieder in die Innenstadt unterwegs, an den Lahnwiesen anzutreffen, um mit Drogen zu dealen oder Ladendiebstahl zu begehen. „Auf diese Situation stellen wir uns schon heute ein.“
Indem eine polizeiliche Betreuung vor Ort ausgeschlossen und dafür weiter bis zu tausend Blaulichtfahrten pro Tag in Lauf genommen werden?
TE telefoniert anschließend noch mit dem Pressesprecher des Regierungspräsidiums Gießen. Der betont, dass jeder Vorfall auch zur Anzeige gebracht, die Polizei verständigt und eingebunden werde. Man versuche zudem auch, durch Verlegungen gewissen Brandherde zu löschen. TE fragt weiter nach der Haltung des Regierungspräsidiums zum Gang an die Öffentlichkeit der fünf so schwer frustrierten Gießener Polizisten: „Uns hat das am Wochenende der Veröffentlichung überrascht“, sagt der Sprecher gegenüber TE. „Aber letztlich ist das etwas, das uns nicht bekannt war. Uns hat da niemals ein Schreiben erreicht. Im Artikel war seinerzeit geschrieben worden, das es einen Brandbrief gegeben hätte, auch der hat uns nicht erreicht. Weiteres müssten Sie aber mit dem Polizeipräsidium Mittelhessen abstimmen.“
In wie weit das aber zu einer Reduzierung von Straftaten führt, scheint auch für Gießen in den Sternen zu stehen. So mag das Geordnete Rückkehr Gesetz eine theoretisch sinnvolle gesetzliche Möglichkeit sein, Migranten ohne Bleibeperspektive zur Rückkehr zu bewegen oder zu zwingen – in der Praxis wird dieses Gesetz zum Magneten für ein Zuspitzung der Gefahrenlage in den Unterbringungen.
Oder wie der Polizeipräsident erweiternd beschrieb: Diese kriminelle Zuspitzung würde aus den Unterkünften in die Städte getragen. Spätestens mit den warmen Temperaturen und einem beendeten Lockdown sei das polizeibekannte Klientel wieder in die Innenstadt unterwegs, an den Lahnwiesen anzutreffen, um mit Drogen zu dealen oder Ladendiebstahl zu begehen.