Tichys Einblick
Georg Gafron antwortet an Leser

Warum Biden nicht Putin oder Xi ist

Warum Deutschland sich entscheiden muss und warum es die Wahl hat - Und warum die Entscheidung über „Nordstream 2“ der Moment der Wahrheit ist. Eine Replik auf kritische Leserzuschriften.

IMAGO/Steinach

Das große Verdienst von „Tichys Einblick“ besteht insbesondere darin, dass hier Kommentare, Berichte und Standpunkte publiziert werden, die fast schon ein Alleinstellungsmerkmal im ideologisierten Einheitsbrei der veröffentlichten Meinung darstellen. An den vielen Zuschriften, die täglich bei TE eingehen, sieht die Redaktion eine Aufforderung zum Weitermachen und freut sich über jede Zustimmung. Gleichzeitig lernen wir durch geäußerte Kritik. Mit dieser, insbesondere an meinen Beiträgen zum deutsch-russischen Verhältnis, möchte ich mich heute auseinandersetzen.

Vorgeworfen wird mir von Vielen eine einseitige Betrachtung der russischen sowie der chinesischen Politik und der innenpolitischen Verhältnisse in diesen Ländern. Regelmäßig wird behauptet, ich betrachtete das Vorgehen Moskaus und Washingtons nicht ausgewogen und mit ungleichem Abstand. Ebenso wirft man mir eine Nichtbeachtung deutscher Interessen, bei gleichzeitiger Unterbewertung russischer Motive für das Verhalten Moskaus vor.

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Zu meiner Grundposition: Bei der Beurteilung anderer Staaten, aber auch des eigenen Landes, ist für mich die Einhaltung bestimmter Grundregeln eines zivilisierten Zusammenlebens der Maßstab. Hierzu gehören die Legitimation staatlicher Herrschaft durch freie und geheime Wahlen, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Bewahrung und Achtung der grundlegenden Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen festgelegt sind, die Freiheit der Presse, sowie der Kultur, Freizügigkeit beim Reisen innerhalb und außerhalb des Landes, Rechtsschutz durch eine unabhängige Justiz, sowie eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die den Widerspruch zu staatlichem Handeln garantiert, Zustände in den Haftanstalten, die der Menschenwürde und damit internationalem Konsens entsprechen und, last but not least, das Recht zu Demonstrationen und einer Garantie für Verhältnismäßigkeit beim Vorgehen der Polizei.

Meine Kritiker werden mir kaum widersprechen können, wenn ich behaupte, dass weder Russland noch die Volksrepublik China auch nur eines dieser Kriterien erfüllt. Im Gegensatz zu den Staaten des Westens, und dazu zählen natürlich die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen freilich auch in Abständen gegen einzelne Kriterien verstoßen wird, gehören in den besagten Diktaturen das Nichteinhalten dieser Essentials zum allgemeinen Staatsverständnis. Ich füge hinzu, dass kritische Vorgänge dieser Art in den westlichen Demokratien in aller Regel nicht auf längere Zeit verborgen bleiben. Dafür garantiert schon das Vorhandensein freier und miteinander konkurrierender Medien, wie auch durch die Abbildung der Meinungen verschiedener Interessengruppen selbst innerhalb der Eliten.

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Nun könnte man meinen, was gehen uns eigentlich die Vorgänge in anderen Ländern an? Schließlich haben diese eine eigene historische Entwicklung und oftmals gänzlich andere kulturelle und religiöse Traditionen. Dazu gehört beispielsweise die unserem Werteverständnis widersprechende anhaltende Unterdrückung der Frauen in weiten Teilen des islamischen Kulturkreises. Erwähnt sei hier auch die gesetzlich geschützte Möglichkeit in Russland, seine Ehefrau zu verprügeln. Letztlich ist das alles auch deren innere Angelegenheit. Und wenn die Uyguren wegen ihres islamischen Glaubens in China in Konzentrationslagern landen und viele dort umkommen, ist das letztlich auch deren Sache, die uns nichts angehe. Ja, wenn man sämtliche moralischen, menschlichen Motive für die Bewertung Dritter beiseite schiebt, ist eine solche Haltung aus Gründen des Eigennutzes sogar verständlich und bei dem allgemein in der Welt herrschenden Zynismus auch nachzuvollziehen.

Nehmen wir mal an, Deutschland zöge sich aus dem Bündnis mit den USA zurück. Das käme der Aufgabe des nicht zuletzt nuklearen Schutzes durch die NATO gleich. Na und, höre ich jetzt viele sagen. Wir sind doch ein wirtschaftlich starkes Volk und hegen keinerlei kriegerische Absichten gegen auch nur irgend jemanden auf diesem Planeten. Warum sollten wir uns die Finger für andere Interessen mitverbrennen? Auch dieser Gedanke ist nachvollziehbar.

Russland zum Beispiel braucht Deutschland als Erzeuger wichtiger Produkte aller Bereiche seines Landes, wenn sein völlig marodes und unreformierbares Wirtschaftssystem nicht über Nacht zusammenbrechen soll. Wir brauchen Russland aber auch, denn von dort kommen so wichtige Rohstoffe wie Öl und Gas; und wenn hierzulande in absehbarer Zeit auch der Strom ausgeht, zusätzlich reichlich Atomstrom von den russischen Brüdern und Schwestern. Außerdem, und auch das stimmt, sind sich die Mentalitäten unserer beiden Völker weitaus näher als der „American way of Life”. Das meine ich jetzt gar nicht abschätzig, denn in der Geschichte und bis heute bewertet eine Mehrheit der Russen und der Deutschen die Rolle des Staates und die staatliche Fürsorge für sein Leben wesentlich höher als die individuelle Freiheit und die damit verbundenen Grundrechte. Die Ursachen dafür reichen weit in die Jahrhunderte zurück. Also, auf geht’s. Deutschland als Handelsnation in einer win-win-Abhängigkeit für beide Seiten und vor allen Dingen mit einer friedlichen Zukunft – was kann es Besseres geben?

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Wenn da nicht die alte Weisheit wäre: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“. Zu Sowjetzeiten begründete man die eigene Aggressivität mit dem historisch unabwendbar notwendigen, weil wissenschaftlich begründeten, weltweiten Sieg des Sozialismus, der seine Vervollkommnung in der klassenlosen Gesellschaft und sich durch die Gleichheit aller im Kommunismus erfahre. Mit dem Untergang der UdSSR war dieses Kapitel vorerst beendet.

An die Stelle der Ideologie ist heute in Russland der alte Großmachtanspruch der Zaren-Zeit mit den imperialistischen Ambitionen des 19. Jahrhunderts getreten. Die Basis dafür ist ein übersteigerter und militanter Nationalismus, der auch in der offenen Missachtung anderer Ethnien zum Ausdruck kommt. Ich empfehle hierzu das nur eintägige Verweilen auf dem für das Inland bestimmten TV-Kanal „Planeta“. Neben umfassenden Dokumentationen über die ständige Einsatzbereitschaft der russischen Armee, füllen endlos lange Kriegsfilme Tag für Tag den Schirm. Die gesamte Jugenderziehung ist in puncto Militarisierung längst auf dem Niveau der Stalinzeit angekommen.

Nicht mehr die hehren Ziele des Marxismus-Leninismus bestimmen die offizielle Propaganda. Die neuen Ziele sind ein starkes Russland und die Glorie der russischen Nation zumindest theoretisch auf der ganzen Welt. Die Annexion der Krim, die Muskelspiele auf ukrainischem Territorium, die ständigen Drohungen gegen die baltischen Staaten mit Verweis auf den Schutz dort lebender russischer Minderheiten, aber auch die Annexion von Teilen Georgiens zeigen, wohin solches Denken unter Missachtung des Völkerrechts führt. Wenn es um seine Interessen geht und darauf ankommt, kann aus dem Partner Russland jederzeit auch ein böser Nachbar werden.

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Eine weitere Erkenntnis der Geschichte ist, dass Diktaturen sich nach innen, außer durch Zwang und Repression immer auch durch das Versprechen einer besseren Zukunft behaupten. Je unwahrscheinlicher das Erfüllen dieser Verheißung sich erweist, umso dringender wird nach diversen Säuberungen gegen erklärte „Sündenböcke“ ein äußerer Feind für das Regime notwendig. Was daraus folgt, dürfte jedem klar sein. Im Falle Chinas kommt zu alldem noch hinzu, dass schon bis zum Jahre 2050 die absolute Dominanz auf diesem Planeten angestrebt wird, und noch viel besser: das chinesische Gesellschaftssystem soll nach und nach auf die ganze Welt ausgedehnt werden. Die Voraussetzung dafür zu schaffen, bemüht man sich schon jetzt in Peking in globaler und nicht selten aggressiver Weise.

Andererseits, auch China hat einen riesigen Markt und braucht Länder wie Deutschland. Was aber passiert, wenn eines Tages der Partner Deutschland eigene Interessen formuliert oder einfach nur Kritik an bestimmten Entscheidungen übt. Übernimmt man dann die Industrie, schafft eigene Kontrollgremien fern von zu Haus oder sackt die Länder einfach ein? Die Antworten auf diese Fragen geben Deutschland & Co dann nicht mehr. Ihr Schicksal liegt in fremden Händen. Real gesehen ist das ja schon jetzt so, nur dass die Schutzmacht bisher USA heißt – und das ist eben bei allem Widerwillen ein Land von Freiheit und Demokratie. Die geschilderte Alternative dazu kommt manchem vielleicht sogar zwingend vor.

Wie sollte sich Deutschland denn schon angesichts eines Pazifismus, der zur Staatsräson wurde und in Abwesenheit jeder wehrfähigen militärischen Komponente verteidigen? Wäre es nicht besser, in vorauseilendem Gehorsam, die Bundeswehr aufzulösen und die Amerikaner aus dem Lande zu jagen? Eine Mehrheit dafür hätte man. Auch wie sollte ein Staat, der schon bei der Bereitstellung von Impfstoffen und einer angeblich so tödlichen Bedrohung wie der Pandemie vollständig versagt, der Herausforderung des riesigen militärischen Kolosses der Russen standhalten? Hinzukommt, dass der eigentliche Niedergang der deutschen Wirtschaft durch den ökologischen Umbau beginnend im Herbst noch bevorsteht.

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Die Stunde der Entscheidung, welche Zukunft unser Land bevorzugt, wird schneller kommen, als viele denken. Noch hält Merkel an „Nordstream 2“ fest. So wie die USA strikt dagegen sind, würde diese zweite Pipeline doch die Abhängigkeit von Russland wesentlich verstärken. Dort könnte der eigentliche Bruchpunkt liegen.

Zum Schluss noch ein Gedanke, der vielen fremd erscheinen mag, nämlich der an unsere unmittelbar östlichen Nachbarn. Kaum zu glauben, dass die Polen ein weiteres Mal in der Geschichte zwischen Russland und Deutschland zermalmt werden wollen. Nur dass diesmal die Russen das Geschäft mangels deutscher Truppen allein durchziehen müssten. Monate der Freude werden das für uns auch nicht gerade sein. Doch was bleibt uns anderes übrig, als verständnisvoll zu nicken, brauchen wir doch jeden Hauch Gas und andere Rohstoffe, nebst Atomstrom, um den Laden hier am Laufen zu halten.

Kurzum – vielleicht konnte ich mich Ihnen ein wenig verständlich machen. Meine politischen Überzeugungen entspringen weder materiellen Zuwendungen Dritter noch anderer niederer Instinkte – sie sind das Ergebnis des eingehenden Studiums historischer Prozesse und Einsichten. Ansonsten freue ich mich auch weiterhin über jede Meinungsäußerung zu meinen Positionen. Denn sie zeigen Ihr Interesse und die Bereitschaft zu konstruktiver Kritik und Diskussion. In diesem Sinne, Ihr Georg Gafron

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