De facto erleben wir in dieser schwarzen Woche der deutschen Demokratie einen Putsch gegen die Fundamente der bürgerlichen Freiheit. Dies geschieht in Deutschland, dem Land, das sich auf die Fahne geschrieben hatte: NIE WIEDER.
I.
Der Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einem Obrigkeitsstaat scheint den meisten Deutschen nicht bewusst zu sein. Im Rechtsstaat sind Gesetze und Verordnungen anfechtbar. Sie müssen hinreichend begründet und verhältnismäßig sein. Im Obrigkeitsstaat ist den Bürgern der Rechtsweg weitgehend versperrt. Es darf das Gesetz so wenig kritisiert werden wie die Obrigkeit selbst. Denn die Obrigkeit ist das Gesetz. Sie handelt im Auftrag einer selbst definierten Moral. Wer sie in Frage stellt, ist unmoralisch, unpatriotisch, unsolidarisch und ein Hetzer.
II.
Im vorliegenden Fall bindet die Obrigkeit ihre Scheinmoral an willkürlich und fragwürdig gegriffene Zahlenwerte. Sie versucht den Freiheitsentzug als unbestreitbar zu objektivieren. Das wäre moralisch, wenn er auf den größtmöglichen Nutzen aller Betroffener abzielte. Was aber wie eine Besinnung auf den Utilitarismus der großen liberalen Denker des 18. Jahrhunderts erinnert, ist in Wahrheit die perfide Umkehr dieser Maxime. Es wird nicht der größtmögliche Nutzen, sondern der größtmögliche Schaden für die Gesellschaft zum moralischen Maßstab erklärt. Denn es gilt der Primat der Angst über die Vernunft.
III.
Die große Mehrheit des Deutschen Bundestags hat in dieser Woche vorgeführt, auf wessen Seite sie steht. Es ist die des Obrigkeitsstaats und nicht die des Rechtsstaats. Die Losung lautet: Im Zweifel gegen die Freiheit. Wer dagegen öffentlich protestiert, wird zu einem Fall für die Polizei. Die wichtigste demokratische Institution, das Parlament, hat sich selbst entmächtigt. In der ersten wie in der zweiten Kammer. Kein Ministerpräsident hat das Entmächtigungsgesetz begrüßt, alle haben es heftig kritisiert, dennoch hat keiner gewagt, dagegen zu stimmen. Sie haben den Bundesrat zur bloßen Farce verkommen lassen und ihrer eigenen Entmachtung nicht widersprochen.
IV.
Zwei der von sich selbst zu Landesleitern Degradierten rangen zuvor mit allen Tricks um die Kanzlerkandidatur der Unionsparteien. Die entscheidende Frage, die der Freiheit, spielte dabei die geringste Rolle. Unter diesen Umständen ist es mir völlig egal, welcher Kakadu des Herzens gerade nicht aufgestellt worden ist.
V.
Man hätte sich so sehr gewünscht, dass der Sieger, ein gewisser L aus A, unverzüglich mit seiner Arbeit begänne und Wahlkampf führte. Wahlkampf führen hieße, auf die Unterschiede zu konkurrierenden Parteien zu bestehen. Falls diese Unterschiede nicht mehr zu erkennen sind, gälte es, sie wieder zu entwickeln. Es hieße, nicht nur verschämt zwischen den Zeilen gewisse Zweifel zu äußern, sondern sich entsprechend zu positionieren. Man wird jedoch bescheiden. Das einzige, was für L aus A spricht, ist die Tatsache, dass ihm wirklich alles zum Machthaber zu fehlen scheint. Man betrachte dies unter den herrschenden Umständen als einen Vorzug, auch wenn es ihm allgemein als Schwäche ausgelegt wird. Er ist im Vergleich zu S aus N die geringere Gefahr, falls wir uns nicht irren. Mindestens einer sieht das anders, nämlich der, der sich seinerseits gern als Machthaber gesehen hätte.
VI.
Doch verkehrte Welt. Der allseits bejubelten B aus B wird gerade wegen ihrer völligen Unerfahrenheit die Eignung für das höchste Regierungsamt zugesprochen. Ihre Ahnungslosigkeit wird zu Kompetenz erklärt. Ihre Unbedarftheit heißt nun Frische. Ihre Vision für Deutschland ist ein Streichelzoo. Sie wurde aus rein sexistischen Gründen ihrem Gegenkandidaten vorgezogen. Und ihrer Partei wird gerade wegen der lautlosen Prozedur im Hinterzimmer demokratische Reife attestiert.
VII.
Für die meisten Deutschen ist „Machtkampf“ ein Wort, das sie vor Abscheu zittern lässt. Andererseits lieben sie die Macht und würden sich ihr nie in den Weg stellen. Man kann das heute daran sehen, wie sie ihre Sympathien verteilen. B aus B geht das Entmächtigungsgesetz der deutschen Demokratie nicht weit genug, deshalb ist sie die mit Abstand Beliebteste. Auch S aus N liebt es härter und schärfer: Platz zwei. Nur L aus A erlaubte sich leise, verdruckste Zweifel. Deshalb stellt sich nun ernsthaft die Frage, ob mit ihm überhaupt Wahlen zu gewinnen sind.
VIII.
Wenn schon die Erste, Zweite und Dritte Gewalt nichts taugen, sollten wir von der Vierten nicht mehr erwarten.