Tichys Einblick
Abschiebestopps und Abzug der Amerikaner

Kommt die nächste „Flüchtlingswelle“ aus Afghanistan und Griechenland?

Der Abzug der Amerikaner und der Bundeswehr aus Afghanistan bedeutet Rückkehr der Taliban. Deren Opfern zu helfen ist richtig – aber durch die Übersiedlung nach Deutschland? Auch Griechenland gilt jetzt als "unzumutbar".

Friedhof für Kriegsopfer in Kabul, Afghanistan, April 2021

IMAGO / Xinhua

Innerdeutsche Debatten über einen Abschiebestopp sind zwangsläufig immer auch solche über eine Zunahme der illegalen Einreisen aus diesen Ländern. Denn wird ein Abschiebestopp beispielsweise nach Afghanistan verfügt, dann ist das ein wichtiger Hinweis für ausreisewillige Afghanen, sich Richtung Deutschland in Marsch zu setzen. Die sozialen Netzwerke funktionieren hier bis in den hintersten Winkel der Welt – nein, Deutschland ist schon lange kein Geheimtipp mehr für Glücksritter.

Aktuell fordert u.a. die Nichtregierungsorganisation (NGO) Pro Asyl einen Abschiebestopp nach Afghanistan und verlangt eine „Neubewertung der Lage von Geflüchteten.“ Die Gründe dafür sind zunächst nicht von der Hand zu weisen: Afghanistan-Experten befürchten eine Ausbreitung der Talibanherrschaft ausgelöst durch den vom US-Präsidenten Joe Biden beschlossenen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan. Die Süddeutsche Zeitung titelt dazu: „Biden erfüllt Trumps Versprechen“. Der Abzug soll am 1. Mai beginnen und bis 11. September –  also mit dem zwanzigsten Jahrestag der Terroranschläge – abgeschlossen sein. Eine seltsame symbolische Geste. Was will uns der Amerikaner damit sagen?

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Um die Qualität der Niederlage zu beschreiben, muss hier nur auf die in wenigen Tagen stattfindende internationale Afghanistan-Konferenz verwiesen werden, die in Istanbul eigentlich unter Beteiligung der Taliban als vollwertigem Gesprächspartner am Tisch stattfinden sollte. Die Taliban haben ihre Teilnahme allerdings vor einer Woche abgesagt. Eine Einigung mit irgendwem wird von den religiösen Extremisten also nicht einmal mehr pro Forma für notwendig erachtet – die Niederlage der USA und ihrer Verbündeten inklusive Deutschland ist somit eine bedingungslose.

Was hier passiert, ist nur deswegen kein zweites Vietnam, weil es stiller und ohne theatralische Szenen passiert. Der Tagesbefehl aus dem deutschen Verteidigungsministerium vom 15.04.2021 nannte den 11. September ebenfalls als letzten Tag auch für eintausend deutsche Soldaten am Hindukusch. Von Stolz ist da sogar trotzig die Rede, vom verlustreichsten Einsatz „in der Geschichte der Bundeswehr“ spricht Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU).

Die Verteidigungsministerin erklärte gegenüber der Deutschen Presse Agentur, sie möchte einheimische Mitarbeiter der Bundeswehr „vereinfacht und schnell nach Deutschland holen.“ Diese Afghanen sollen nicht schutzlos zurückbleiben – auch das sicher eine Lehre aus dem tödlichen Fiasko, das US-amerikanische Truppen beim endgültigen Abzug aus Vietnam 1975 verursacht hatten, als man Hals über Kopf das Land vor den anrückenden kommunistischen Truppen verlassen musste und viele Unterstützer ihrem grausamen Schicksal überlassen wurden.

Seit Beginn des deutschen Einsatzes in Afghanistan betraf das knapp 800 Helfer der Bundeswehr, die nach Deutschland kommen durften, weitere 300 sind aktuell noch vor Ort beschäftigt. Familienmitglieder kommen sicher ebenfalls noch dazu, es bleibt aber eine eher überschaubare Größe. In wie weit Deutschland hier auch Mitarbeiter der Allierten mit übernimmt, wird sich herausstellen – Deutschland ist sicher nicht nur für Bundeswehr-Helfer das Wunschland.

Jetzt also in wenigen Tagen eine von den USA organisierte Afghanistan-Friedenskonferenz in Istanbul – boykottiert von den Taliban. Wäre Mullah Omar, der legendenumwobene einäugige Anführer der Taliban noch am Leben, er hätte in Istanbul einen Stuhl für sich beanspruchen können. Die US-Regierung hatte einst unter George W. Busch ein Kopfgeld in Höhe von 10 Millionen Euro auf ihn ausgesetzt. Er hatte die Nato-Truppen aufgefordert, dass Land zu verlassen, jetzt wurde seinem Wunsch quasi posthum entsprochen. Nein, nicht die US-Amerikaner brachten den Mann zu Fall, er soll an Tuberkulose in einem Krankenhaus in Karatschi verstorben sein – in Afghanistan keine seltene Erkrankung bzw. Todesursache.

Im Windschatten dieses Abzuges der Schutzmacht vor den Taliban fordert nun ProAsyl „einen sofortigen Abschiebestopp und eine Neubewertung der Lage der Geflüchteten.“ Die NGO hat zweifellos Recht damit anzunehmen, dass Afghanistan nun „noch mehr zum Talibanland“ wird. So ist die Forderung der Organisation, Abschiebungen auszusetzen eine Debatte wert. Aber das Ergebnis muss nicht das sein, das ProAsyl sich wohl wünscht.

Denn dabei darf eine übergeordnetere Debatte nicht unter den Tisch fallen, jene nämlich, die sich damit beschäftigt, warum überhaupt Afghanen aus einem mehr als 6500 Kilometer entfernten Ort auf der Welt ausgerechnet in Deutschland Asyl beantragen sollten. Dafür gibt es keine Rechtfertigung außer vielleicht, man würde die Einwanderung in die vergleichsweise üppigen deutschen Sozialsysteme als so einen Grund angeben. Aber der wäre als nicht vom Gesetz gedeckt abzulehnen, die Menschen daher illegal.

„sehr froh, wieder in Deutschland zu sein"
Horst Seehofers abgeschobene Afghanen sind zurück
Wohin auch immer solche Afghanen, die in ihrem Land Verfolgung ausgesetzt sind, in Nachbarländer fliehen, die internationale Staatengemeinschaft sollte ihnen genau dort Unterstützung zusagen. Deutschland darf als exotischer Daueraufenthaltsort keine erste und auch keine zweite Option mehr sein. Die Hoffnung, welche ein Abschiebestopp in Deutschland auch bei ausreisewilligen Afghanen, bei Schleppern oder bei Afghanen weckt, die sich bereits in anderen Ländern mit geringerer sozialer Unterstützung als in Deutschland, quasi in der Warteschleife aufhalten, darf unter keinen Umständen geweckt werden.

Eine ganz schlechte Nachricht ist in diesem Zusammenhang sicher, dass nach Nordrhein-Westfalen nun auch Niedersachsen (die Länder sind für Abschiebungen zuständig) Abschiebungen nach Griechenland untersagt. Mitten in der EU also jetzt keine sicheren Herkunftsländer mehr. Und tausende Afghanen mehr, die über Griechenland kommend nun vor Rücküberstellungen geschützt sind.

Eines aber muss man Pro Asyl und anderen Organisationen zugestehen: Der Truppenabzug ist definitiv Anlass für eine Neubewertung. Die Einschätzung, dass es in Afghanistan in den Städten sichere Orte gebe, ist in Anbetracht der neuen Lage mindestens kühn.

Jetzt ist es allerdings so, dass anstehenden Abschiebungen von Afghanen keineswegs Normalität sind. Diverse NGOs und politische Kräfte sind engagiert, rechtsgültigen Abschiebungen zu verhindern. Hinzu kommt eine weitere Hürde: Die ablehnenden Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind auf eine Weise fehlerhaft oder mindestens nicht gerichtsfest, dass alleine dieser Sachverhalt etwas Vestörendes hat: Bei Flüchtlingen aus Afghanistan wurden 2020 rund 60 Prozent der gerichtlich inhaltlich überprüften BAMF-Bescheide aufgehoben, 2019 waren es 48,7 Prozent (https://www.ulla-jelpke.de/2021/04/fehlerquote-beim-bamf-steigt/).

Nun mag man es betrachten, wie einst der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, der von einer „Anti-Abschiebe-Industrie“ sprach. Oder wie Kolumnist Jan Fleischhauer, der im Frühjahr 2018 öffentlich darüber nachdachte, die Zahl der Klagen gegen die Asylbescheide dadurch einzudämmen, die Gratisgerichtsbarkeit abzuschaffen. Aber das alles führt auch in der Bevölkerung zu Unmut, wo es ja nicht darum gehen kann, mitten in Deutschland gegenüber Menschen unnötige Härten zu zeigen – der Hebel müsste schon viel früher angesetzt werden. Nämlich bei der rigerosen Verhinderung der Einreisen und einer klaren Ansage, dass Deutschland bereit ist zu helfen, solange die Mittel es zulassen, aber eben nicht indem man Afghanen hier mit Unterstützung diverser NGOs in großer Zahl ansiedelt, sondern ihnen stattdessen in einem der Heimat nahen Fluchtort eine Grundversorgungslage ermöglicht, beispielsweise mit Hilfe des UNHCR und anderer internationaler Organisationen.

Erwähnswert ist auch, dass die deutschen Verwaltungsgerichte in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 bereits 5644 ablehnende Asylentscheidungen für afghanische Migranten aufgehoben hatten. 9557 mal wurden die Gerichte angerufen – mehrheitlich also mit Erfolg. Hinzu kommt, dass die nicht erfolgreichen Fälle zudem oft solche waren, die sich beispielsweise im Rahmen der Dublin-Verinbarung oder aus anderen Gründen erledigt hatten, es also gar nicht erst zu einer Überpüfung durch das Gericht gekommen ist, die Quote der unrechtmässigen BAMF-Entscheidungen wäre also mutmaßlich noch höher gewesen.

Abschließend noch die aktuellen Zahlen aus besagtem Bundesamt für Migration und Zuwanderung. Eine Sprecherin des Bamf gibt Informationen, die folgendes Bild ergeben: Nach syrischen Asylbewerbern (35,3 Prozent) waren Afghanen die zweitstärkste Gruppe mit 10,5 Prozent. Insgesamt hatten 106.685 Migranten und Flüchtlinge in 2020 einen Asylantrag gestellt. Knapp zehntausend davon demnach aus Afghanistan. Erwähnenswert hier, dass Afghanen schon lange vor der Zuwanderungswelle ab 2015 vergleichbar häufig Asylanträge in Deutschland gestellt hatten. Nehmen wir die Jahre 2015, 2016 und 2017 einmal aus, die wesentlich höhere Antragszahlen vorweisen (31.382 / 127.012 / 16.432 Anträge), haben Afghanen schon 2011 und in den Folgejahren bis heute durchschnittlich zwischen 7500 und 10.000 Anträge jährlich in Deutschland gestellt.

Und um noch die aktuellen Zahlen zu nennen: Zwischen Januar und März 2021 haben bisher 3.597 Afghanen in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt. Nehmen wir beispielhaft März 2021, dann ist ein Anstieg der Asylantragszahlen insgesamt gegenüber März 2020 um immerhin 33,5 Prozent zu vermelden. Bei Afghanen ist das im Vergleich zu 2020 sogar eine Steigerung um 69,3 Prozent.

Eine letzte Bemerkung noch zu Abschiebungen aus Deutschland: Diese sind in 2020 (bis Oktober) im Vergleich zu den Vorjahren auf insgesamt 8802 Personen zurückgegangen. Am häufigsten abgeschoben wurde nach Albanien, Georgien, Frankreich, Serbien und Moldau, also waren alle zahlenmäßig relevanten Abschiebungen innereuropäische. Bis Oktober 2020 gab es zudem etwas mehr als 4000 Ausreisen nach finanzieller Förderung und etwas mehr als 13.000 freiwillige Ausreisen.

Wovon niemand spricht
Des Westens verlorene Kriege
 2020 wurden laut Auskunft der Bundesregierung 325 Afghanen nach Afghanistan abgeschoben, von denen wiederum nur 137 direkt nach Afghanistan abgeschoben wurden. 212 Afghanen wurden im Rahmen der Dublin-Verordnung in ein EU-Mitgliedstaat überführt, wo sie zuvor schon einen Asylantrag gestellt haben. Griechenland fällt hier zukünftig wie schon erwähnt (bisher NRW und Niedersachsen) aus als quasi nicht sicheres Einreiseland.

Dieser Text soll enden mit einem Zitat aus dem Film Rambo III, dem Hollywood-Klassiker, in dem Rambo mit den afghanischen Mudschaheddin gegen die sowjetischen Besatzer kämpft. Da nämlich erklärt einer der afghanischen Kämpfer dem US-amerikanischen Elitesoldaten Rambo: „Es ist besser fünf Wölfe zu schicken, als 500 Schafe.“

Als was die Afghanen nun zukünftig nach Deutschland kommen, ist die Frage der Stunde. Der Truppenabzug der allierten Streitkräfte wird jedenfalls dafür sorgen, dass etliche Taliban-Kämpfer ihren vorübergehend übergeworfenen Schafspelz abwerfen werden. Und damit stehen die Afghanen dann möglicherweise wieder da, wo sie vor über zwei Jahrzehnten standen, sollten sich die von den Amerikanern implantierten Politiker unter dem Druck der Wölfe als Schafe erweisen – Mittelalter reloaded?

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