Die jüngsten Corona-Zahlen sind eine sonderbare Mischung aus Unverschämtheit und Lächerlichkeit. Denn den zuständigen Stellen ist nicht gelungen, über Ostern halbwegs ernstzunehmende Zahlen zu produzieren. Ämter stellten einfach die Meldungen ein, weswegen die Inzidenz erst nach unten einbrach und jetzt wieder nach oben schnellt. Wann es wieder Zahlen mit der Aussagekraft von vor Ostern gibt, weiß keiner so recht. Und das in einer Zeit, in der die härtesten politischen Entscheidungen seit langem getroffen werden, mehr noch: In der genau diese Inzidenz per Bundesgesetz automatisch über elementare Grundrechte entscheiden soll.
Es gibt grundsätzliche Trends, die die Inzidenz systematisch verzerren. Beispielsweise der massenhafte Einsatz von Schnelltests, über den man schlichtweg keine Zahlen hat. Auf TE-Anfrage konnte man beim RKI nicht mal grobe Schätzungen vorlegen. Aus dem Alltag kann man aber wohl vermuten, dass die Zahl der Schnelltests die der PCR-Tests deutlich übersteigt – die Zahl der Gesamttests hat sich in den letzten Wochen dadurch also mindestens verdoppelt, wohl eher vervielfacht. Da das RKI aber nur die Zahl der PCR-Tests ermittelt, kommt das in den Statistiken des RKI nicht vor. In den letzten Wochen erleben wir einen plötzlichen Anstieg der Positivenquote der PCR-Tests. Das resultiert möglicherweise daraus: Denn wer einen positiven Schnelltest hat, muss sich einem erneuten PCR-Test unterziehen, wer allerdings ein negatives Ergebnis erhält, wird fröhlich sein Leben weiter leben und den Gesundheitsämtern fern bleiben.
Solange es nur um PCR-Tests ging, hatte man zumindest eine RKI-Statistik, aus der man dann die positiven Tests in Relation zu den Gesamttests stellen konnte. Jetzt ist die Statistik unvollständig, da sie Schnelltests, das Rückgrat der Testung in Deutschland, nicht einbezieht:
Schon im Dezember letzten Jahres wurden dieser Stelle in einem Update die Frage nach der Corona-Dunkelziffer in den Mittelpunkt gestellt – zum damaligen Zeitpunkt musste man mindestens von einer Dunkelziffer von 100 Prozent (wahrscheinlicher 300%) ausgehen. Und das bedeutet dann: Es gibt viele Fälle, die nicht gefunden werden, auch weil die teilweise völlig symptomfrei verlaufen – aber wenn man sie testen würde, gingen sie eben in die Statistik ein. Durch den massenhaften Einsatz von Schnelltests wurde diese Dunkelziffer höchst wahrscheinlich zu großen Teilen aufgelöst und wird es weiter. Man kann die Zahlen damit aber nur noch schwer vergleichen.
Vermehrt zu testen ist ja erstmal nicht zu kritisieren, gerade in Altersheimen ist es ein entscheidendes und erfolgreiches Instrument, aus dem sich in den letzten Wochen stark sinkende Todeszahlen ableiten. Aber man muss die aus der stark angestiegenen Testung resultierenden Effekte in der Bewertung der Situation berücksichtigen und kann nicht stumpf die Inzidenz weiter messen und sie gleich gewichten.
TE fragte beim RKI nach, ob der vermehrte Einsatz von Schnelltests irgendwie erfasst wird und ob dessen Auswirkungen in der Bewertung der gegenwärtige Lage vorkommen. Antwort: „Aus den dem RKI nach IfSG vorliegenden Daten lässt sich keine Verzerrung der Anzahl PCR-positiver Testergebnisse durch eine übergroße oder stark ansteigende Anzahl von positiven Antigentests nachweisen.“
Nur fünf Prozent der Corona-Infektionen sollen durch Schnelltests gefunden werden? Obwohl die die überwältigende Mehrheit der Testungen ausmachen? Das kann kaum sein. Man schreibt uns auch gleich dazu: „Einschränkend muss gesagt werden, dass über die Vollständigkeit der den Gesundheitsämtern gemeldeten positiven Antigennachweise keine Aussage gemacht werden kann.“
Hier laufen nun sicherlich zwei Effekte zusammen: Zum einen erfassen die Ämter nicht flächendeckend, wer einen positiven Schnelltest hat, das ist ja meist ohnehin nur Selbstaussage. Zum anderen melden sich viele Leute, die ein positives Schnelltestergebnis aber keine Symptome haben, erst gar nicht beim Gesundheitsamt – daraus resultieren schließlich hauptsächlich negative Effekte für sie persönlich. Und sich selbst in Quarantäne begeben und seine Kontakte informieren kann man auch ohne Behörden. Die Corona-Zahlen sind also das Ergebnis eines Wettlaufs der Verzerrungen.
Übrigens zeigen die Zahlen des RKI dennoch: Die Zahl der Antigentests muss deutlich angestiegen sein, immerhin hat sich der genannte Prozentsatz innerhalb der letzten Wochen fast verdoppelt.
Ein anderer Effekt, der die fragwürdige Aussagekraft der Inzidenzzahlen demonstriert, ist die merkwürdige Entwicklung, dass trotz steigender gemeldeter Fälle, die Anzahl der Corona-Toten und hospitalisierten Fälle seit Wochen abnimmt. Das zeigt folgende Grafik, zu der man einschränkend sagen muss, dass die Werte der letzten 2-3 Meldewochen wohl nicht aussagekräftig sind. Der Trend ist dennoch eindeutig. Und das wohlgemerkt angesichts einer angeblich deutlich tödlicheren Variante, die mittlerweile über 80 Prozent der Neuinfektionen in Deutschland ausmachen soll. Natürlich spielen auch Testung der Altenheime, Impfungen und Immunitäten eine Rolle. Dennoch sind diese Entwicklungen zumindest bemerkenswert:
Da nicht mal erfasst wird, wieviele Schnelltests durchgeführt werden, und die Verantwortlichen in der Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt irgendein Interesse an den Tag legten, die Größe der Dunkelziffer abzuschätzen, kann man aus dem Inzidenzwert eigentlich kaum noch etwas ableiten, es sind zu viele Effekte, die gegeneinander laufen und das Bild in alle vier Himmelsrichtungen verzerren. Die Inzidenz ist zu einer reinen Phantasiegröße geworden.
An diese Zahl dann am Ende die schwerwiegendsten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik zu knüpfen, erscheint als Wahnsinn – und eigentlich ein Punkt, an dem Gerichte einschreiten müssten. Das erläuterte der Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau auch hier im TE-Interview.