Der Plan für einen bundeseinheitlichen Lockdown wird konkret: Es existiert bereits ein entsprechender Regierungsentwurf, der ab einer regionalen Inzidenz von 100 verpflichtende Ausgangssperren und Einzelhandelsschließungen vorsieht. TE liegt der Entwurf vor (hier zu lesen). Wir haben den habilitierten Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau gefragt, wie er diesen in der Form sicherlich historischen Vorstoß bewertet. Vosgerau ist Rechtsanwalt in Berlin und wurde einem bundesweiten Publikum bekannt unter anderem durch die von ihm geprägte Formulierung „Herrschaft des Unrechts“ in Bezug auf die Flüchtlingskrise 2015, sowie zahlreiche Gutachten beispielsweise zu Fragen von Migration und Seenotrettung.
TE: Wie ist dieser neue Entwurf der Bundesregierung aus juristischer Perspektive zu bewerten? Wird hier nicht der mit Ewigkeitsklausel verankerte Föderalismus angegriffen?
Was das Infektionsschutzgesetz angeht, so ist in Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes in Hinblick auf „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten“ vorgesehen. Konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit bedeutet, dass die Länder so lange das Gesetzgebungsrecht haben, wie der Bund nicht „abschließend“ von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Dann sind die Länder legislatorisch gesperrt. Nun gibt es schon seit ewigen Zeiten das Infektionsschutzgesetz auf Bundesebene, vor 1994 hieß es „Bundesseuchengesetz“. Bayern hat sich als einziges Bundesland ein Landes-Infektionsschutzgesetz gegeben, dies ist kompetenzrechtlich zweifelhaft.
Daher verstößt die Einführung des neuen § 28b IfSG nicht gegen den Verfassungsgrundsatz der Bundesstaatlichkeit. Man muss sich eher wundern, wie lange der Bund gebraucht hat, um zu kapieren, dass er die Sache auch an sich ziehen kann. Würde die Neufassung des IfSG auch in die Behördenorganisation, also die Verwaltungshoheit der Länder eingreifen, könnte es nicht ohne Zustimmung des Bundesrates in Kraft treten, dies ist aber nicht der Fall. Da die Länder auch den neuen § 28 b IfSG als eigene Angelegenheit ausführen sollen, handelt es sich um ein Einspruchsgesetz, d.h. der Bundesrat könnte die Gesetzgebung allenfalls durch Anrufung des Vermittlungsausschusses verzögern, aber nicht verhindern, so lange es eine Mehrheit im Bundestag gibt. Aber das halte ich auf den ersten Blick nicht für garantiert.
In Hannover gab es jüngst ein interessantes Urteil des Oberverwaltungsgerichts, dass die regionale Ausgangssperre aufhob. Begründung: Zu pauschal, es sei nicht nachweisbar, dass es konkret funktioniert. Wenn das auf Städteebene bereits zu pauschal ist, wie sieht es aus, wenn die gleiche Regelung bundesweit quasi flächendeckend eingeführt werden soll?
Das Urteil des OVG Lüneburg ist völlig richtig gewesen, demgegenüber haben viele Verwaltungsgerichte bei der Beurteilung behördlicher Maßnahmen, wie v.a. Ausgangssperren, im einstweiligen Rechtsschutzverfahren regelrecht versagt oder sind jedenfalls ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag nicht nachgekommen. Denn ein Verwaltungsgericht muss kraft eigener Erkenntnis untersuchen, ob eine behördliche Maßnahme nach den Umständen des Einzelfalls zur Bekämpfung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit nachvollziehbar geeignet ist, ohne die Grundrechte übermäßig einzuschränken. Demgegenüber ist es ein Anfängerfehler, wenn Verwaltungsgerichte einfach abstrakt das „Recht auf Leben“ gegen das „Recht auf Spazierengehen“ abwägen und dann überraschenderweise zu dem Ergebnis kommen, dass das Leben überwiege. Denn man kann keine abstrakten Rechtsgüter gegeneinander abwägen, sondern immer nur die Sinnhaftigkeit einer bestimmten Maßnahme im Einzelfall gegenüber möglichen Grundrechtseinschränkungen rechtfertigen – oder eben nicht.
Durch die Anordnung in einem formellen, das heißt vom Deutschen Bundestag beschlossenen Bundesgesetz und nicht nur in einer Rechtsverordnung, die immer unter dem Vorbehalt der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts steht, nach der eben alle grundrechtswesentlichen Entscheidungen vom demokratisch unmittelbar legitimierten Gesetzgeber selbst getroffen werden müssen, wird natürlich die demokratische Legitimität einer solchen Maßnahme erhöht. Und: rein formell ist das Gesetz natürlich nicht mehr vor den Verwaltungsgerichten angreifbar, vielmehr hätten sich die Verwaltungsgerichte nach dem Gesetz zu richten.
Es bleibt den Bürgern aber unbenommen, diese neue Regelung unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht anzugreifen; das Kriterium der Erschöpfung des Rechtsweges gilt insofern nicht, weil es gegen formelle Bundesgesetze eben keinen Rechtsweg gibt. Eine Verfassungsbeschwerde, die auf die Pauschalität, und Differenziertheit und Großräumlichkeit entsprechender Ausgangssperren gestützt wird, hätte meines Erachtens auf den ersten Blick gute Erfolgschancen. Einmal ganz davon abgesehen, dass es von vornherein Unsinn ist, wenn die Leute täglich in nach wie vor voll besetzten öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit ins Büro fahren dürfen und auch wieder zurück, dann aber einsame Spaziergänge an der frischen Luft nach 21:00 Uhr streng verboten sind.
Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg sagt auch: Es erscheine „nicht angemessen, alle in einem bestimmten Gebiet lebenden Personen einer Ausgangsbeschränkung zu unterwerfen, nur weil einzelne Personen und Personengruppen die geltenden allgemeinen Kontaktbeschränkungen nicht freiwillig befolgten“. Gilt das dann nicht auch für ein solches Bundesgesetz?
In der Tat wird durch eine solche Erwägung zur Begründung einer Rechtsverordnung eigentlich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf den Kopf gestellt: man müsse vermeintlich alle einsperren, weil sich einige angeblich nicht an Vorschriften halten. Aber wie gesagt, wären die Maßstäbe in Hinblick auf ein unmittelbar parlamentarisch legitimiertes Gesetz andere als in Hinblick auf eine nur von der Exekutive ausgehende Rechtsverordnung. Dennoch würde ich jedenfalls die pauschalen und kreisweiten Ausgehverbote nach 21:00 Uhr auch in Form eines formellen Gesetzes für übermäßig, weil schon für ungeeignet halten.
Auch muss das unsägliche einseitige Abstellen auf den so genannten Inzidenzwert endlich vor dem Bundesverfassungsgericht thematisiert werden. Denn der weist ja nur die Auffindbarkeit bestimmter genetischer Bruchstücke, die für den Coronavirus typisch sein sollen, meist in milliardenfacher Verstärkung, auf der Schleimhaut nach – ohne irgendeine Aussage über den Gesundheitszustand oder die Infektiosität einer Einzelperson zu erlauben.
Nun, auch wenn man vielleicht nicht formaljuristisch exakt argumentieren kann, muss man nicht konstatieren, dass eine solche Machtkonzentration beim Kanzleramt eindeutig dem Geist des Grundgesetzes zuwider läuft?
Nein, nicht unbedingt. Zwar ist die Gefahrenabwehr nach der Grundkonzeption des Grundgesetzes eigentlich Ländersache. Von diesem Grundsatz gibt es aber immer schon Ausnahmen, zumal, wenn die Gefahr länderübergreifenden und allgemeinen Charakter hat. Jedenfalls die Bundesregierung und wohl auch die Bundestagsmehrheit gehen davon aus, dass das derzeitige Auftreten des Coronavirus katastrophale Züge hat. Dies könnte man natürlich auch bezweifeln – etwa mit der Erwägung, dass nicht nur die Hongkong-Grippe ab dem Jahr 1968, sondern auch die Influenza-Welle von 2017/18 viel schlimmere Folgen hatten als das derzeitige Auftreten von COVID-19 Viren, ohne dass deswegen irgendein Geschäft schließen musste. Aber legt man eben die derzeit – und ja nicht nur in Deutschland! – herrschende Einschätzung zugrunde, so ist gegen die bundesweite und auch vereinheitlichte Gefahrenbekämpfung verfassungsrechtlich nicht unbedingt etwas einzuwenden.
Im Grundgesetz findet sich bei den meisten Grundrechten eine Formulierung, dass sie aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden dürfen. Das wird jetzt so weit ausgelegt, dass man etwa die Berufsfreiheit für ganze Branchen de facto aufheben kann. Sind Grundrechte wirklich nur schwammige Worthülsen, die man im Ernstfall dann doch quasi beliebig aushöhlen darf? Wann beginnen die auch in der politischen Realität, abseits von Sonntagsreden, zu tragen?
Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes: in keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Diese Wesensgehaltsgarantie des Grundgesetzes spielt meines Erachtens in der derzeitigen verfassungsrechtlichen Debatte eine noch viel zu kleine Rolle, man scheint die Vorschrift fast vergessen zu haben.
Nach herrschender Meinung – ich spreche insofern gelegentlich von der „apologetischen Fachliteratur“ – erleben wir derzeit eigentlich gar nichts Besonderes. Die herrschende Meinung in der Staatsrechtslehre geht davon aus, dass Grundrechte schon immer durch einfache Gesetze beziehungsweise auf Grund einfacher Gesetze beschränkt worden sind und beschränkt werden konnten, und dass diese Grundrechtseinschränkungen umso intensiver ausfallen dürfen, je größer die Gefahr ist, die dadurch bekämpft werden soll. Und derzeit seien die Gefahren für Leben und Gesundheit eben unvergleichlich groß!
Ich persönlich sehe dies mittlerweile anders, ohne mich fachlich damit bislang durchsetzen zu können. Ich meine nämlich, dass die derzeitigen, umfassenden und tiefgreifenden Grundrechtseinschränkungen aufgrund des Infektionsschutzgesetzes nicht mit herkömmlichen Grundrechtseinschränkungen verglichen werden können, wie sie schon immer und speziell aus Gründen der Gefahrenabwehr zulässig gewesen sind. Denn es fällt auf, dass sich der breite Grundrechts-Dispens eben von vornherein nicht an so genannte gefahrenabwehrrechtliche Störer oder wenigstens Verdächtige richtet, bei denen also irgendein Anfangsverdacht besteht, dass sie infiziert sind und andere infizieren könnten, sondern es sind von vornherein millionenfach Nichtstörer, also unbeteiligte Personen betroffen. Und deswegen würde ich sagen, dass wir uns bereits seit über einem Jahr eigentlich in einem Ausnahmezustand befinden. Und das ist höchst problematisch, denn im Grundgesetz ist der Ausnahmezustand ja eigentlich gar nicht vorgesehen, abgesehen allenfalls vom Verteidigungsfall (Art. 115a GG). Und dies spricht wiederum gegen die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Corona Maßnahmen – es ist ein verfassungsrechtlich nicht geregelter Ausnahmezustand.
Also hätten die Gerichte eigentlich längst deutlicher einschreiten müssen?
Ja, die Gerichte hätten dies thematisieren können und es hätte auch die Möglichkeit der konkreten Normenkontrolle, also der gerichtlichen Vorlage an das Bundesverfassungsgericht, gegeben. Die Verwaltungsgerichte sind offenbar nicht auf die Möglichkeit des Notstands gekommen, weil dieser eben nicht alltäglich genug ist, damit hatten sie sonst ja noch nie zu tun.
Wer kann jetzt vor das Bundesverfassungsgericht ziehen? Ist es möglich das Vorhaben noch vor Gericht zu stoppen?
Gegen die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes, also insbesondere die zwingende Anordnung von Ausgangssperren bei bestimmten Inzidenz, kann jeder Bürger vorgehen, der geltend macht, von dieser Regel selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen zu sein.
Merkel steht unter Zugzwang. Sie muss das Gesetz schnell durchbringen, die Corona-Zahlen beginnen möglicherweise schon zu sinken. Möglicherweise erübrigt sich ihr Gesetz, wenn sie zu lange zögert. Welche Schritte muss das Vorhaben durchlaufen? Bis wann muss man damit rechnen, dass es gültig wird?
In der Tat ist es absehbar – wie bereits im letzten Jahr – dass die Inzidenzzahlen mit dem Übergang zu Frühling und Sommer stark abfallen werden, weil sich dies ja bei praktisch jeder Virusinfektion so verhält, es hat offenbar mit der Aktivität der Viren zu tun, die Kälte mehr schätzen als Wärme. Zugleich fällt auf, dass derzeit, und zwar ausgerechnet im Verbund mit so genannten Lockerungsmaßnahmen, auf breiter Front Testpflichten durchgesetzt werden. So hat zum Beispiel die Staatsbibliothek Berlin unlängst verlautbart, dass man, wenn man dort also zum Beispiel einen Termin hat, weil man Bücher zurückgeben oder den Leseausweis verlängern muss, das Gebäude nur noch nach einem Schnelltest-Nachweis betreten darf. Auch an Schulen sollen ja jetzt Testpflichten eingeführt werden. Nun scheint es auf der Hand zu liegen, dass diese abermalige starke Ausweitung der Testung auch zu einem Anstieg der positiven Befunde führen muss; im Fernsehen werden ja immer nur absolute Zahlen gemeldet und niemals der viel interessantere Prozentsatz der positiven Testung.
Wenn das Gesetz im Bundestag eine Mehrheit findet und auch der Bundesrat nicht gewillt ist, es aufzuhalten, dann kann es im Grunde in anderthalb Wochen durchgehen. Will hingegen der Bundesrat das Gesetz wenigstens aufhalten, so kann er den Vermittlungsausschuss anrufen, und dort wird dann mehrere Wochen lang verhandelt. Am Ende könnte der Bundestag, wenn es dort nach wie vor eine Mehrheit gibt, den Bundesrat jedoch überstimmen.