Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel wollten dem wankenden türkischen Präsidialdiktator Recep Tayyip Erdogan ihre Aufwartung machen. Dem geht es derzeit nicht wirklich gut. Seine türkische Lira befindet sich seit Wochen im Sturzflug, Investoren suchen nach Wegen, ihr Geld zu retten, die türkische Kriegsmaschinerie zur Rückeroberung Groß-Osmaniens ist ins Stocken geraten und US-Präsident Joe Biden zeigt dem bekennenden Muslimbruder die kalte Schulter, weil dieser durch den von ihm initiierten Angriff Aserbaidschans auf Armenien den Russen neue Stützpunkte im Kaukasus ver- und sich statt NATO-Waffen russische Raketen angeschafft hat. Also bleibt dem Diktator, der infolge des inszenierten Putsches derzeit per Gericht zahlreiche gefühlte Gefährder seiner Herrschaft lebenslang in türkischen Verliesyen verschwinden lässt, die oppositionelle HDP verbieten will und das Bekenntnis zu Frauenrechten im islamischen Papierkorb endgelagert hat, nur noch der Rettungsanker Europäische Union.
So traten sie nun an, die beiden gefühlt Wichtigen. Und wurden von Erdogan in seinen Repräsentativräumen empfangen – dort, wo hinter dem Präsidenten bei Solo-Auftritten immer eine strahlende Sonne fixiert ist, was wiederum dem Türken auf Fotos und bei TV-Auftritten die Aura eines Heiligenscheins verleiht.
Doch was musste von der Leyen sehen, als sie den Raum betrat? Dort standen nur zwei dieser bedeutenden Stühle, flankiert von jeweils einem ebenfalls güldenen Beistelltisch. Einen dieser Stühle, zugewandt der türkischen Flagge, hatte sich bereits Erdogan durch seine Standortwahl gesichert. Den anderen eroberte flugs der Ratspräsident: Husch und hinsetzen – den Platz an der Sonne gesichert!
Und von der Leyen? Die stand dumm da. Denn für sie gab es keinen Stuhl mehr. In Abwandlung der bei Kindergeburtstagen beliebten Reise nach Jerusalem hatte Erdogan seinen Gästen die türkische Variante präsentiert. Der schnelle Charles Michel aus Belgien blieb selbstverständlich ganz uncharmant stur – es wird schon seine Gründe haben, weshalb die Franzosen ihre nördlichen Nachbarn für Bauernstiesel halten. Ursula von der Leyen soll, so ist zu hören, ein wenig protestiert haben – in der Art der früheren Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, die nach ihrer Abwahl die Frage in den Raum stellte: „Und wo bleibe ich?“ Seinerzeit beantwortete sich die Frage mit Tanzauftritten im Trash-TV – doch für die Dame von der Kommission blieb nur ein weit entfernter Platz auf einem seitlich stehenden Sofa, auf dem sie verloren in Plüsch den Plausch der beiden Herren beobachten durften.
Wer ist der Oberclown in der Brüsseler Manege?
Naheliegend, dass solch ein Eklat nicht ohne Folgen bleiben kann. Wobei – unmittelbare Konsequenzen gab es nicht. Der Belgier tauschte mit dem türkischen Präsidenten Freundlichkeiten aus über dies und das und will dabei, so ließ er später über Twitter wissen, sogar ein wenig Kritik geäußert haben. Der Muslim auf dem Präsidentenstuhl nahm die Würdigung an und dürfte einmal mehr mit mehr oder weniger blumigen Worten auf die Notwendigkeiten der finanziellen Rettung der Türkei durch die EU verwiesen haben.
Kaum der kleinasiatischen Demütigung entronnen, flogen nun im heimatlichen Brüssel die Fetzen. Vordergründig ging es dabei um Protokollfragen: Wer ist der bedeutendere Clown in der Manege des Brüsseler EU-Zirkus? Wer verdient den Auftritt im sonnenbeschienenen Rampenlicht – und wer muss mit dem Katzentisch vorlieb nehmen?
Die evangelische, selbst in Belgien geborene Ursula von der Leyen (62) aus Niedersachsen sagt selbstverständlich: Ich! Denn schließlich steht sie der bedeutsamen Kommission vor, die sich als eine Art Ministerrat und damit exekutive Regierung der EU versteht. Damit wäre sie also im EU-Zirkus etwas ähnliches wie ihre Busenfreundin Angela Merkel in der Berliner Regierungs-Waschmaschine: Was politisch in der EU geschieht, bestimmt die Kommission! So zumindest das Diktum der Eigendefinition.
Doch der katholische Charles Michel (45) aus dem wallonischen Namur sieht das anders. Als Präsident des Europäischen Rates, in dem sich die Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer treffen und auch alles bestimmen, was in der Europäischen Union geschieht, sieht er sich protokollarisch deutlich über dem Kommissionpräsidenten, weshalb es auch sein natürliches Anrecht war, auf dem Erdogan‘schen Bedeutungsstuhl Platz zu nehmen und Ursula von der Leyen ihrem Schicksal zu überlassen. Hier galt also weder Alter vor Schönheit noch fränkische Galanterie – wer einen Anspruch anzumelden hat, der muss ihn auch durchsetzen! Als nun noch durchsickerte – und welch Schelm vermutete dahinter nicht den schlitzohrigen Türken – dass die Stuhlfrage bereits im Vorfeld im real exekutierten Sinne mit dem Büro Michels vereinbart worden war, war die Stimmung in den Brüsseler Bürokratenhallen abschließend auf dem Nullpunkt.
Die Frage stand im Raum, warum sich die EU-Vertreter ein solches Verhalten der Türkei überhaupt haben gefallen lassen? Warum habe man nicht umgehend den Saal verlassen und den durchtriebenen Türken so gezwungen, einen weiteren Bedeutungsstuhl zu platzieren?
Diese alles dominierende Frage steht nun im Brüsseler Raum und harrt einer Antwort. Zwar versuchte es der Belgier noch mit beschwichtigenden Hinweisen darauf, dass doch die inhaltlichen Gespräche viel bedeutsamer seien als solche lächerlichen Protokollfragen – doch irgendwie scheint Ursula von der Leyens Büro diese Sicht der Dinge nicht teilen zu wollen. Nachvollziehbar, denn aus der Sicht des Gewinners im Spiel der Reise nach Ankara lässt sich solches gut behaupten.
So lässt die Frage, wer denn nun bedeutender sei, die Brüsseler Bühnenarbeiter nicht mehr ruhen.
Wäre die EU die Bundesrepublik, dann wäre die Situation klar. Da wäre von der Leyen eben Merkel – und Michel der Präsident des Bundesrats. Und dieser ist nach Protokoll Nummer Vier im Staat, während die Kanzlerin nach Bundespräsident und Bundestagspräsident die Nummer Drei ist. Demnach also stünde von der Leyen über Michel und seine Stuhleroberung wäre ein seiner Würde nicht würdiges Unterfangen gewesen.
Doch ist das nicht vergleichbar. Denn der Bundesratspräsident wird aus den Reihen der Regierungschefs der Bundesländer gestellt – er ist einer von ihnen, derzeit mit Ausnahme des Landes Thüringen in freier und unabhängiger Wahl durch das Parlament in Amt und Würden gekommen.
Insofern ist die Sachlage nun eigentlich geklärt. Ob die Niedersächsin oder der Wallone – beide sind gleichberechtigte Chefclowns von EU-Regierungschefs Gnaden. Treten sie allein auf, gehört ihnen die Manege – treten sie im Duo auf, dürfen sie mit ihrem Prestigegezänk das sich den Bauch haltende Publikum unterhalten.
Und was nun die Reise nach Ankara betrifft: Eigentlich hätte Erdogan beide auf dem Sofa platzieren müssen. Denn in des Präsidialdiktators Selbstverständnis dürfen auf dem ihm gleichgestellten Bedeutungsstuhl ausschließlich mindestens ranggleiche Exzellenzen der Macho-Hierarchie sitzen. Mangels EU-Präsident hätte dieser hart umkämpfte Stuhl also unbesetzt bleiben müssen. Und selbst wenn die EU so etwas wie einen Präsidenten hätte: Solange die EU nichts anderes ist als ein Verein europäischer Staatsregierungen, wäre selbst ein EU-Präsident nichts gegen Größe und Glamour eines Erdogan.
Insofern darf es das Brüsseler Politik-Theater durchaus als Gnade empfinden, dass ihr zumindest einer der beiden Bedeutungsstühle angeboten wurde. Dass dieser dann selbstverständlich ausschließlich dem männlichen Gast zustand – daran dürfte doch auf der islamisch geprägten Achse Brüssel-Ankara nicht einmal ein Hauch von Zweifel aufkommen.