Gut sechs Monate vergehen noch bis zur Wahl im September. Bis dahin wird Angela Merkel voraussichtlich nicht zurücktreten. Sie wird auch Jens Spahn und Peter Altmaier nicht entlassen. Auch danach dürfte sich die spezifisch deutsche Politikmischung aus Globalgeneralplan und tausend Spiegelstrichen mit je zehn Fußnoten nicht ändern. Auch die Medienlandschaft dürfte das nicht. Karl Lauterbach erst recht nicht. Und es bleibt auch bei der aktuellen Lage, in der ein Teil der Bevölkerung so verängstigt ist, dass er jede noch so absurde Einschränkung hinnimmt, solange ihm Politiker nur suggerieren, das sei zur Virusbekämpfung nötig – und andere Covid-19 für eine Erfindung halten. Die Rhetorik der Regierungspolitiker und ihr erratisches Herumfuhrwerken seit einem Jahr Covid hat das Land erschöpft und ermüdet. Sie haben nicht viel erreicht, eins aber doch: kaum je in Friedenszeiten waren so viele Menschen in Deutschland verunsichert. Selten standen Gruppen in der Gesellschaft einander derart unversöhnlich gegenüber.
Die folgenden zehn Punkte werden auf Kritik stoßen und niemand ganz und gar befriedigen. Das müssen sie auch nicht. Es handelt sich dabei um einen Minimalvorschlag für die kommenden Monate, bei dem es um eines geht: Pragmatismus in einer schwierigen Lage, die sich so schnell nicht auflösen wird.
Die zehn Punkte werden auch nicht die Politik in Deutschland bestimmen.
Als pragmatisches Minimum sollen sie trotzdem ein Angebot in der Debatte sein.
1. Das Gremium aus Kanzlerin und Ministerpräsidenten als Entscheidungsgremium für Corona-Maßnahmen tritt nicht mehr zusammen.
Es besitzt keinerlei verfassungsrechtliche Legitimation. Nach dem angerichteten Chaos der ‚Osterruhe’ – einer gesetzestechnisch gar nicht durchführbaren und sachlich unsinnigen Maßnahme als Ergebnis einer fünfzehnstündigen Beratung – gibt es auch keine praktische Berechtigung für diese Runde. Spätestens nach Merkels Drohung in der Stichwortlieferantinnenrunde von Anne Will, die föderale Ordnung durch Maßnahmen des Bundes einzuschränken, müssen sich die Landesregierungen und –Parlamente gegen die Anmaßung Merkels wehren, wollen sie nicht noch mehr Ansehen verlieren.
2. Die Regierung jedes Bundeslandes verantwortet ihre Corona-Politik ab sofort wieder selbst. Fast alle möglichen Maßnahmen liegen ohnehin in der Kompetenz der Länder. Dabei sind Unterschiede zwischen den Ländern ausdrücklich erwünscht. Wenn etwa das Saarland den Lockdown nach Ostern aufhebt, Bayern erwartungsgemäß noch einige Zeit bei seinen Regeln bleibt und ein anderes Bundesland wieder einen anderen Weg einschlägt, dann lassen sich die Folgen jeweilige Praxis direkt miteinander vergleichen. Wie entwickeln sich dann Erkrankungen, Krankenhaus-Auslastung und Inzidenz? Das würde einen Aufschluss über die Wirkung von Lockdown-Maßnahmen geben, der sich nicht ignorieren lässt.
Nur auf einem Gebiet müssen die Maßnahmen überall gleich bleiben: beim Schutz der besonders Gefährdeten in Alten- und Pflegeheimen.
3. Kommunen sollen die Freiheit erhalten, die bisher erfolgreichen Regeln von Tübingen und Rostock zu übernehmen, beziehungsweise, sie an ihre jeweilige Lage anzupassen.
4. Die Corona-Politik richtet sich nicht länger allein nach der so genannten 7-Tages-Inzidenz. Zum einen deshalb, weil der Wert, wie er bisher zusammengewürfelt wird, unbrauchbar und irreführend ist. Der Wert muss auf einen einheitlichen Wert von Getesteten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung eines Landes, Landkreises oder einer Kommune berechnet werden, um überhaupt eine Vergleichbarkeit herzustellen. Vorschläge dazu gibt es. Außerdem braucht es die Unterscheidung zwischen positiv getesteten und tatsächlich infektiösen Personen. Sie sind eine Teilmenge der ersteren – und bilden die eigentlich relevante Gruppe.
Die Zahl derjenigen, die andere mit Covid-19 infizieren könnten, kann in Zukunft aber nur eine von mehreren Größen sein, auf die sich die politisch Verantwortlichen stützen. Zum Gesamtbild gehören die Zahlen der tatsächlich Erkrankten, derjenigen, die Intensivbetten belegen – und in allen Gruppen die Betrachtung nach Altersgruppen. Um es praktisch zu machen: ein kurzfristiger Anstieg von Infizierten in den jungen Altersgruppen ist anders zu bewerten als eine Zunahme von Infizierten ab 60 Jahren.
Entscheidend sollte die Frage sein: droht tatsächlich eine Situation, in der Intensivbetten und Beatmungskapazitäten knapp werden? Ganz am Anfang lautete das zentrale Argument für alle Anti-Corona-Maßnahmen: flatten the curve. Also: Infektionen zeitlich strecken, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Das ist nach wie vor richtig.
Falsch ist und war immer die Maxime, Ansteckungen egal in welcher Altersgruppe unbedingt und zu jedem Kollateralschaden zu verhindern.
5. Die Parlamente müssen sich die ihr zustehende Entscheidungsmacht wieder nehmen – was praktisch bedeutet, die Macht der Bunderegierung auf das zurechtzustutzen, was das Grundgesetz vorsieht. Im Fall Merkels, die vermutlich nicht von sich aus zurücktreten wird, auch noch weiter. Sie hat mehrfach bewiesen, dass sie sich um die Verfassung nicht schert – zuletzt mit ihrer grundgesetzwidrigen Forderung, Auslandsreisen weitgehend zu verbieten. In den letzten Monaten ihrer Amtszeit sollte ihr deshalb jede Entscheidung aus der Hand genommen werden, wenn es irgend geht.
Der nächste Vorschlag ist mit dem Mangel behaftet, dass er sich an einen Bundestag und an Länderparlamente richtet, die in dem vergangenen Jahr freiwillig auf ihre Kompetenz verzichtet hatten, und in denen schon vor Corona das Prinzip verloren gegangen war, dass sich ein Parlament eine Regierung hält, nicht umgekehrt. Trotzdem lautet die Minimalforderung: der Bundestag beruft umgehend ein Corona-Sachverständigenrat ein, in dem nicht nur Virologen und Datenmodellierer sitzen, sondern auch Mediziner mit einem anderen Erfahrungshorizont, Soziologen, Ökonomen, Verfassungsjuristen, Vertreter besonders betroffener Branchen und Berufsgruppen. Die Aufgabe des Rates lautet, Wirkungen und Nebenwirkungen der Covid-19-Bekämpfung zu untersuchen, Vorschläge zu unterbreiten und die Politik mit Empfehlungen zu begleiten. In den Rat gehören neben anderen der Mediziner Matthias Schrappe, ehemaliger Vize-Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung des Gesundheitswesens, der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit, der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe Ulrich Hegerl, der Soziologe Wolfgang Streeck, der Ökonom Hans-Werner Sinn und der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier.
Und künftig debattieren und entscheiden der Bundestag und die Landesparlamente. Die Exekutive führt, wie der Name sagt, Parlamentsbeschlüsse aus.
Eine zweite Aufgabe der Beratungsrunde besteht darin, die Corona-Politik vergleichsweise erfolgreicher Staaten wie Südkorea, Singapur und Finnland zu beobachten, und zu überlegen, was sich von ihnen lernen lässt.
6. Mit Hilfe dieses Beratungsgremiums bringen die Verantwortlichen in Ländern und Kommunen endlich das auf den Weg, was in Deutschland bisher weitgehend fehlt: einfache, pragmatische Maßnahmen. Einkaufszeiten speziell für Senioren in den Vormittagsstunden beispielsweise würden das Infektionsrisiko für diese Gruppe reduzieren, der Einsatz von Luftfiltern in Klassenräumen das Ansteckungsrisiko für Kinder. Gegen die Öffnung der Außengastronomie mit passenden Hygienemaßnahmen spricht nichts. Tübingen praktiziert das – ohne dass bis jetzt Infektionszahlen und Krankenhaus-Auslastung steigen würden. Das gilt auch für Kulturveranstaltungen und Sport im Freien. Ebenso wenige Gründe gibt es, Urlaub im eigenen Ferienhaus oder im Campingwagen und Übernachtungen mit Negativtest in Hotels zu verbieten.
Erst Recht gibt es keinen Grund, selbst geimpfte Senioren in Altenheimen daran zu hindern, gemeinsam im Speisesaal Mahlzeiten einzunehmen, oder die Zahl der Besucher auf eine Person zu beschränken, was bedeutet, dass beispielsweise nur die Tochter kommen darf, aber nicht das Enkelkind nicht mitbringen darf. Erwachsene sollen selbst entscheiden dürfen, welches Risiko sie eingehen möchten, solange sie niemand anderen gefährden. Wenn etwa eine geimpfte Seniorin im Heim ihren Enkel sehen möchte, dann steht es keiner Institution zu, mit dem Hinweis auf ein theoretisches „Restrisiko“ besser wissen zu wollen als sie selbst, was gut für sie ist.
Zum Pragmatismus gehört es auch, die starre „Priorisierung“ beim Impfen zu beenden. Weil viele ihren Impftermin wegen der Verunsicherung gerade um AstraZeneca nicht wahrnehmen, bleiben bisher hunderttausende Impfdosen ungenutzt – während andere, die sich impfen lassen würden, keinen Termin bekommen. Was in den Impfzentren nicht verbraucht wird, sollte deshalb sofort an die Hausärzte abgegeben werden.
Eine praktische statt überkomplizierte Lösung ist auch dringend nötig, um tausenden vom Lockdown betroffenen insolvenzbedrohten Unternehmern und Selbständigen zu helfen. Deshalb: Abschläge sollten über die Finanzämter ausgezahlt werden, die ohnehin über alle nötigen Daten verfügen. Diese Methode wäre auch viel weniger betrugsanfällig als die umständliche Beantragung von Hilfen durch Dritte, also Steuerberater. Und Abschlag bedeutet, dass die spitze Abrechnung später erfolgt. Die Verwaltung muss sich von ihrem Prinzip verabschieden, dass nur dann Geld fließt, wenn auch das letzte Formblatt ausgefüllt und die Hilfe bis auf die Nachkommastelle unter ständig wechselnden Vorschriften berechnet ist. Und viele Bürger müssten auch ihre urdeutsche Angst ablegen, dass ihr Nachbar unberechtigterweise drei Euro mehr erhalten könnte als sie selbst.
7. Die oben genannten Experten sollten auch so bald wie möglich eine Gesamtschau über die Kosten der bisherigen Lockdown-Maßnahmen zusammenstellen – von den Folgen verschobener und aufgefallener Operationen über die Verschlechterung der Lage psychisch Kranker bis zu den gesundheitlichen Konsequenzen von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Wohlstandsverlust.
Ein möglichst vollständiges Bild von Wirkungen und Nebenwirkungen ist nötig, um in Zukunft die Schäden zu mildern und einen Tunnelblick der Politik zu verhindern.
8. Alle politisch Verantwortlichen sollten sich den Merkzettel schreiben (und bei jedem Auftritt und jeder Beratung mehrmals studieren): Nichts Unsinniges oder sogar Kontraproduktives fordern und beschließen. Klingt eigentlich selbstverständlich, ist es aber nicht. Es passiert, weil Politiker glauben, sie müssten irgendetwas tun oder fordern. Das sollen sie aber nicht.
Jüngstes Beispiel: Karl Lauterbachs Idee einer Ausgangssperre ab 20 Uhr. Was wäre die Folge? Läden müssten dann schon gegen 19 Uhr schließen, folglich wäre das Gedränge in der letzten Stunde vor Schluss in den Supermärkten und anschließend in den öffentlichen Verkehrsmitteln noch größer als sonst. Die Gefahr, sich zu infizieren, liegt in geschlossenen Räumen etwa zwanzig- bis hundertmal höher als im Freien. Lauterbachs Forderung liefe also darauf hinaus, gerade jetzt, wenn es länger hell bleibt und wärmer wird, erst Menschenmengen draußen mutwillig zu verdichten, um die Leute anschließend mit Staatsgewalt dorthin zu schicken, wo das Infektionsrisiko nachweislich besonders hoch liegt. Falls der SPD-Politiker die jungen Leute im Blick hat, die draußen in Parks bei Getränken sitzen: vertreibt die Polizei sie dort um 20 Uhr, dann würden die meisten nicht allein nach Hause gehen, sondern – das sagt schon eine durchschnittliche Lebenserfahrung, über die aber nicht jeder Berufspolitiker verfügt – in Wohnungen weiterfeiern, mit geringerem Abstand und mehr Infektionen. Lauterbach mit seinen Warnungen und Forderungen des Tages wird sich nicht ändern. Aber es ist sinnvoll, ihm und ähnlichen Lautsprechern deutlich weniger Aufmerksamkeit zu schenken.
Nach Aussage von Gerhard Scheuch, dem führenden Aerosolforscher in Deutschland, gibt es keine wissenschaftliche Begründung für das Tragen von Masken im Freien, so lange ausreichender Abstand möglich ist. Das gleiche gilt natürlich für viel absurdere Maßnahmen, etwa die (mittlerweile wieder gekippte) Pflicht zum Maskentragen beim Joggen in Hamburg oder die „Verweilverbotszone“ an der Düsseldorfer Rheinpromenade. Dieser alberne Politaktivismus nützt nicht nur nichts bei der Bekämpfung des Virus. Er schadet, weil er die ohnehin stark angeschlagene Autorität von Politikern und Exekutive noch weiter ruiniert.
9. Eine minimale Selbstverpflichtung von Medien und Politiker lautet in Zukunft: wenigstens nicht täglich auf die Panik-Kesselpauke dreschen. Das ständige Schlagzeilen über „die Mutante“, „Supermutante“ und „Horrorzahlen“ treibt einen Teil der Bevölkerung in eine dauerhafte Angstpsychose, und lässt einen anderen Teil abstumpfen. Das ständige Reden, Schreiben und Senden im dunkelroten Rhetorikbereich wirkt wie eine auf Dauer gestellte Sirene. Sollte irgendwann wirklich eine sehr viel gefährlichere Mutation auftauchen, dann lassen sich die Warnrufe nicht mehr steigern, um eine gestiegene Gefahr plausibel zu machen. Mutationen sind bei Viren normal; längst nicht jede Mutation muss automatisch gefährlicher sein als ihre Vorgänger.
Schön wäre es auch, wenn Medien die Zahl der positiv Getesteten von Infizierten und Erkrankten unterscheiden würden. Und auch nicht die zwangläufig wegen der Meldepause während Feiertagen auf dem Papier steigende Totenzahl als „traurigen Rekord“ herauströten, wie es beispielsweise nach Weihnachten Spiegel Online praktizierte.
Vielleicht klappt es ja zu Ostern, halbwegs sachlich zu berichten.
Von drohender Überlastung des Gesundheitssystems sollten Politiker und Journalisten nur dann sprechen und schreiben, wenn sie tatsächlich konkret und flächendeckend bevorsteht. Selbst bei den bisherigen Höchstständen der Krankenhausbelegung war das nicht der Fall.
Auch hier gilt: eine Dauerwarnung macht die Ängstlichen wahnsinnig, die restlichen taub.
10. Auf einem zweiten Merkzettelchen sollte stehen: Bei Covid-19 handelt es sich um eine Viruskrankheit, die ernst zu nehmen ist. Aber Covid-19 ist kein „Weckruf“ gegen den „Turbokapitalismus“ (Entwicklungshilfe-Minister Gerd Müller) keine Chance für eine Gesellschaftstransformation (Klaus Schwab, Lisa Neubauer et al.) und keine wunderbare Gelegenheit zur klimafreundlichen Entschleunigung (ZDF).
Das Virus ist ein mikroskopisch kleines Gebilde ohne Plan, Willen und Nervensystem, folglich ist es nicht der „Gegner“ (Jens Spahn), der „noch nicht müde ist“ (Lothar Wieler), erst Recht ist es kein Fingerzeig „von Mutter Natur, die uns in Stubenarrest schickt“ (Prinz Harry). SARS-CoV-2 ist nicht das erste Virus, das viele Menschen befällt, auch nicht das zehnte oder fünfzigste, sondern eines von vielen in der langen Kette von Viruserkrankungen. Und es wird nicht das letzte sein. Bei weitem gehört Covid-19 nicht zu den gefährlichsten Infektionswellen in der Geschichte von Menschen und Krankheitserregern. Die Pandemie ähnelt nicht der „Pest“, die „durch alle Ritzen kriecht“ (Markus Söder). Nicht einmal annähernd.
Also noch einmal: Covid-19 ist keine Strafe, keine Chance, kein Zeichen. Das Virus ist ein Virus ist ein Virus.
Es fällt auf, dass sich in keinem der Länder, in denen die Bekämpfung von Covid-19 bisher mit sehr geringen Opfern und Kollateralschäden gelungen ist, dieser hysterische Überbau aus Endzeitstimmung, Mutter-Natur-Kitsch und Great-Reset-Manifesten findet. Staaten wie Südkorea und Singapur behandeln das Virus einfach als Virus, ganz ohne ideologischen Überbau. Der Versuch, Covid-19 in die Raster von Parteipolitik und Weltdeutung zu quetschen, um damit einen politischen Geländegewinn herauszuholen, verbrennt ungeheure gesellschaftliche Ressourcen, die zur Bekämpfung des Virus und seiner Folgen gebraucht werden.
Offenbar entstehen ganz ohne diesen Überbau die pragmatischsten Lösungen.
Zu diesem Pragmatismus gehört auch die Erkenntnis, dass sich kein Lebensrisiko auf Null drücken lässt. Eine menschenleere Erde ist wesentlich wahrscheinlicher als eine virenfreie Welt. Wer der Logik der Risikominimierung um jeden Preis folgt, der dürfte den Lockdown nie wieder aufheben.