Die Befragung zeichnet ein düsteres Bild. Das Bündnis „Vielfalt im Film“ (ViF) hat am 24. März, wie in TE bereits angekündigt, die Ergebnisse einer großen Umfrage unter Filmschaffenden „zur Vielfalt und Diskriminierung vor und hinter der Kamera“ vorgelegt. Allerdings hat nur ein kleinerer Teil der Branchenbeschäftigten teilgenommen. 3 von 10 Befragten machten Angaben zu eigenen Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz in den letzten zwei Jahren, 8 von 10 Cis-Frauen monieren sexuelle Belästigung im Arbeitskontext.
Die Umfrage wurde von Citizens For Europe gUG (CFE) unter Mitgliedern der größten einheimischen Branchenplattform Crew United (CU) durchgeführt. Sie förderte im deutschsprachigen Filmbusiness subjektive Diskriminierungserfahrungen in größerem Ausmaß zu Tage und ergab, dass deutsche Filme von einem Großteil der befragten Insider als mit vielen Klischees behaftet wahrgenommen werden.
Vorbemerkung: Gesellschaftsbild geht in Richtung Critical-Whiteness-Ansatz
Beigefügt war den Umfragebefunden ein „Glossar“ (siehe hier ) das die vom Bündnis verwendeten Begrifflichkeiten erklärt und damit auch den weltanschaulichen Hintergrund der Verantwortlichen umreißt. Diesen würde man wohl in der aktuellen Terminologie als rassismuskritischen Ansatz, der die Aspekte Gender und Critical-Whiteness integriert, einordnen. Erläutert werden u.a. die Begriffe BPoC, PoC, Cis*, LSBTIAQ+ und Rassistisch benachteiligt („Rassistisch benachteiligt meint Personen, die rassistische Diskriminierung erfahren“).
„Weiß“ zum Beispiel bezeichnet danach „Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, und wird als Gegensatz zu BPoC benutzt. Es geht dabei nicht um die ‚Hautfarbe‘ einer Person, sondern um die gesellschaftliche Machtposition und Privilegien, die mit dieser Position einhergehen.“ „Schwarze Menschen“ werden mit einer „sozialkonstruierten Zuschreibung und gesellschaftlichen Position von Menschen, die von Rassismus betroffen sind,“ in Verbindung gebracht. Das ViF-Weltbild baut also letztlich auf einem Gesellschaftsmodell auf, das sich in einen mehr oder weniger diskriminierten und einen eher nicht diskriminierten Bevölkerungsteil unterteilt und nicht nur objektivierbare statistische Kriterien verwendet. Dabei bleibt das prinzipielle Problem bestehen, dass zentrale Schlüsselbegriffe wie „rassistische Benachteiligung“ oder „sexuelle Belästigung“ zum Teil subjektiv auslegbar sind. Hinter dem Projekt ViF stehen 38 Organisationen. Zu den Finanziers gehören die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die Bundesagentur für Arbeit, Constantin Film, Netflix und mehrere Filmförderungsanstalten. (Die folgende Darstellung übernimmt die ViF-Terminologie.)
Teilnehmer der Umfrage, Fragestellungen, „Vielfaltsdimensionen“
Gleichwohl ist davon auszugehen, dass sich unter den Teilnehmern ein überproportionaler Anteil sich betroffen fühlender Personen zu Wort gemeldet hat, die veröffentlichten Zahlen also sicherlich ein Stück zu hoch sind.
Als Leitfragen wurden formuliert: „Wie divers ist die deutschsprachige Film- und Fernsehbranche vor und hinter der Kamera? Wie ist die Arbeitssituation von Filmschaffenden? Welche Ausschlüsse und Diskriminierungserfahrungen werden erlebt? Welche Maßnahmen können die Filmbranche gerechter gestalten?“ Die Studie arbeitet mit neun „Vielfaltdimensionen“ 1. Beeinträchtigung/Behinderung, 2. Geschlechtsidentität, 3. Gewichtsdiskriminierung. 4. hohes und niedriges Lebensalter. 5. Ost-/DDR- Sozialisation, 6. „rassistische Zuschreibung“/„ethnische” Diskriminierung, 7. Religion/Weltanschauung, 8. sexuelle Orientierung/Identität und 9. Sozialer Status.
Ergebnisse: Diskriminierungserfahrungen im Arbeitskontext
Ausgewählte Befunde:
- Diskriminierung im Arbeitskontext ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem der Filmbranche. Gut 3.200 befragte Filmschaffende – fast 6 von 10 berücksichtigten Teilnehmern – machten Angaben zu Diskriminierungserfahrungen im Arbeitskontext. Davon gab die Hälfte – in absoluten Zahlen rund 1.600 Befragte – an, in den letzten zwei Jahren Diskriminierung im Arbeitskontext erfahren zu haben, jede 20. Person sogar „oft“ bis „fast immer“. Von den 817 Betroffenen, die Angaben zu den Diskriminierungsbezügen machten, nannten 60 Prozent das Geschlecht, 30 Prozent das Lebensalter, 13 Prozent „rassistische Zuschreibungen“ (z.B.: “Ich habe oft Anfragen für den gleichen Typen bekommen. Drogendealer im Park. Ich weiß selbst nicht ganz, ob das diskriminierend ist oder nur Stereotyp. Aber ich bin mir sicher, das liegt daran das ich schwarz bin.“) 13 Prozent verwiesen auf den Aspekt Körpergewicht, 10 Prozent auf die sexuelle Orientierung.
- 8 von 10 der an der Umfrage teilnehmenden Cis-Frauen, die sich dazu äußerten, (N = 2.587) bejahten, in den letzten zwei Jahren sexuelle Belästigung im Arbeitskontext erlebt zu haben. [„Cis-Frauen“ sind definiert als Frauen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.] In über 90 Prozent der Fälle waren nach Angaben der Betroffenen Männer die Verursacher. „Sehr viele Frauen“ erfahren laut Studie „unangemessene sexualisierte Kommentare oder vermeintliche Witze”, über 850 Frauen wurden „bedrängt“, über 170 Frauen wurden zu sexuellen Handlungen aufgefordert, 56 Frauen sogar dazu genötigt. Über die Hälfte (57 %) der Befragten, die über sexuelle Belästigung klagen, behält diese für sich, und nur jede 3. Frau thematisiert ihre Erfahrung im eigenen sozialen Umfeld; zur Anzeige wurde eine Belästigung selten gebracht. Auch nicht-heterosexuelle Befragte berichteten von erfahrenen sexualisierten Übergriffen.
- Nach den Umfragebefunden werden Personen oft in mehr als einer Dimension diskriminiert. So beschwerte sich eine Teilnehmerin über „Micro-Aggressionen, die darin bestehen, dass Schwarzen Frauen generell Kompetenz abgesprochen wird“, eine andere darüber, dass ihr meist die Rolle der Freundin oder Assistentin der Hauptfigur angeboten werde. „Die Rollen sind oft stereotypisiert, rassistisch oder sexistisch.“
- Der Befragung zufolge weisen die meisten Umfrageteilnehmer bezogen auf Diskriminierungsmerkmale 1 bis 3 (Mehrfach-)Zugehörigkeiten vor. „Vor allem BPoC/ rassistisch benachteiligte Menschen haben mehrere Zugehörigkeiten (bis zu acht).“
- Mehr als zwei von drei der Betroffenen (70 %), die eine Angabe zu einer Diskriminierung im Arbeitskontext dazu gemacht haben (N = 572), meldeten den Vorgang nicht. Mögliche Ursachen seien fehlende Konsequenzen oder die Verschlechterung der Situation nach einer Meldung/Anzeige. Wenn sich Filmschaffende entscheiden, die Diskriminierung doch zu melden, beschreiten sie oft nur einen Beschwerdeweg, am ehesten wenden sie sich an die Produktionsleitung und Vorgesetzte.
Sichtbarkeit/Sichtbarmachen der sexuellen Orientierung
- Bei Vielfalt im Film gab immerhin jede fünfte befragte Person an, Teil der LSBTIAQ+-Community zu sein, jede 100. Person identifizierte sich als Trans* oder nicht binär. Dabei erklärten 4 von 10 der Community, die eine Angabe dazu machten (N = 893), im Arbeitskontext „nie bis nur manchmal“ offen mit ihrer Orientierung/Identität umzugehen. Jede dritte Trans* oder nicht binäre Person, die sich hier äußerte (N = 93), hielt sich gleichfalls eher bedeckt. Eine Rolle für die Entscheidung, sich zu outen, spielt vor allem die jeweilige Haltung des Teams am Set, die Frage, ob man Nachteile erfährt, und die Furcht, in eine Schublade gesteckt zu werden. („Meine Agentur hat gesagt, ich bekomme viele Rollen nicht, wenn ich öffentlich schwul bin.“)
- Erfasst wurden von ViF auch die „Pay-Gaps“ nach Berufsfeldern als jeweils geschätzte mittlere Einkommen. Danach verdienen sogenannte Cis-Männer, nicht „rassistisch benachteiligte“ und nicht beeinträchtigte Personen mehr als die jeweilige Gegengruppe.
- Bei den Entscheidern mit „Besetzungs- und Gestaltungsmacht“ im Filmbusiness dominieren in der ViF-Kategorisierung Männer ohne die in der Studie untersuchten Diskriminierungsmerkmale. 15 Prozent der Entscheider „mit Besetzungsmacht“ werden demgegenüber als LSBTIAQ+ eingeordnet, 9 Prozent als BPoC/rassistisch benachteiligt, über 40 Prozent als FINT* [gemeint wohl: Frauen/Inter*/nichtbinär*/Trans*].
Filminhalte/Von Filmschaffenden wahrgenommene Klischees
- Ausgesprochen hoch ist jeweils der Anteil der an der Umfrage beteiligten Filmschaffenden, die einzelne Gruppen als „klischeehaft dargestellt“ einschätzen. Besonders viel Kritik erfährt hier die Darstellung von Arabischen Menschen. 88 Prozent der Umfragesteilnehmer empfinden deren Darstellung als gleichförmig. Kritisiert wurden auch die Charakterisierungen von Muslimischen Menschen (83 %), Sinti und Roma (81 %), „Menschen mit Migrationsgeschichte“ (80 %), Menschen mit einem niedrigen sozialen Status (79 %), Schwarzen Menschen (78 %) und Asiatischen Menschen (75 %). Aber auch Türkische Menschen, „People of Colour“, Menschen mit ostdeutschem Akzent, Russische Menschen, die LSBTIQ+-Gemeinde und Menschen mit Behinderung/Beeinträchtigung werden von mindestens 60 Prozent der Umfrageteilnehmer als nicht „richtig“ präsentiert bewertet.
Forderungskatalog
ViF legt als Ergebnis der Umfrage einen Forderungskatalog vor mit Maßnahmen, die von hohen Anteilen der beteiligten Filmschaffenden für wirksam gehalten werden. Dazu zählen „klare Konsequenzen für Täter*innen“, Nackt- und Intimszenen sollen durch verbindliche Verabredungen und Regeln gerahmt werden. Inhalte zur Diskriminierungsprävention sollen in der Ausbildung des Filmnachwuchs auftauchen. Es soll spezifisch für die Filmbranche eine Antidiskriminierungsstelle geschaffen werden. Zudem erwartet man unter anderem „Verhaltenskodizes“ und Selbstverpflichtungserklärungen der Unternehmen zum diskriminierungssensiblen Umgang (z.B.: Anti-Rassismus-Klausel für die Vertragsgestaltung an Theatern)“. Angedacht sind weiterhin: Workshops, Sensibilisierungstrainings und (verpflichtende) Schulungen auf allen Hierarchieebenen, Diversitätsstandards bei Produktionen, „eine verpflichtende Diversitäts-Checkliste für Förderanträge in den Bereichen Development, Produktion und Verleih von Spielfilmen, wie es die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein eingeführt hat,“ auch eine „Geschlechterquote“ und „Diversitätsquote“.
„dass die Politik und alle Akteure der Branche jetzt mehr denn je in der Verantwortung sind … Kritische, progressive Asiatische Menschen, Schwarze Menschen, queere Menschen, Menschen mit Behinderung – sie alle werden in Zukunft mit an den Entscheidungstischen sitzen, um die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden. Sie sitzen in Gremien der Förderinstitutionen, in den Redaktionen und Jurys. Sie werden von Anfang an bei der Entstehung eines Films in gestalterischen Schlüsselpositionen arbeiten. Freuen wir uns darauf.“
Anmerkungen
Damit läuft die Entwicklung im Kino- und TV-Filmgeschäft längerfristig womöglich doch auf eine Quotierung von Personen/Rollen im deutschsprachigen Film hinaus und ebenso auf dezent verbindliche Vorstellungen bezüglich konkreter Filmstoffe.
Nun würde wohl kein Beobachter ausschließen wollen, dass es in der Film- und Fernsehbranche Ungerechtigkeiten und problematische Verhaltensweisen gibt, wie in allen anderen politischen und beruflichen Kontexten und Lebenssphären. Auch verzichtbare stereotype Schwarz-Weiß-Darstellungen in Filmen existieren sicherlich. Strittig dürfte nur sein, wie man den Defiziten beikommt, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Es überrascht dabei das Ausmaß der dokumentierten Defizite und Probleme. Letztlich erweckt die Studie den Eindruck, es gebe hierzulande vor und hinter der Film- und Fernsehkamera kritische Zustände in Mengen. Hier bleibt allerdings, wie schon gesagt, offen, inwieweit diejenigen 18 Prozent der Mitglieder von Crew United, die teilgenommen haben, für die 82 Prozent der angeschriebenen Kollegen sprechen, die sich nicht an der Erhebung beteiligt haben.
Im Mittelpunkt: Subjektive Berichte, keine nachweisbare Realität
Zu berücksichtigen ist – wie bei den meisten Umfragen zu erfahrener Diskriminierung/beklagtem Rassismus –, dass die Umfrageergebnisse anonym angezeigte subjektive Empfindungen und Erfahrungen widerspiegeln und die Gegenseite der „Täter“/Verursacher keine Möglichkeit hat, Stellung zu nehmen. Juristisch wären die Ergebnisse also höchstens Basis für eine Anklage und keinesfalls ausreichend für ein Urteil. Der Kreis der Täter, die diskriminieren und weibliche Filmschaffende „sexuell belästigen“, erscheint angesichts der Vielzahl der Vorwürfe in der Umfrage enorm groß, die Anzahl der Filmentwickler, die Filme mit klischeehaften Darstellungen auf den Markt werfen, ebenfalls.
Dabei deutete sich auch auf der Pressekonferenz zur Umfrage an, dass unter den Verantwortlichen die Neigung vorherrscht, die berichteten Zustände als zutreffende Beschreibung der Realität anzusehen. Im VIF-Glossar heißt es zum Beispiel zum Punkt „Sexuelle Belästigung“:
„Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hat eine klare Definition dazu: Als sexuelle Belästigung gilt unerwünschtes sexualisiertes Verhalten, durch das die Würde eines Menschen verletzt werden soll. Dies beinhaltet anzügliche Sprüche, taxierende Blicke, unerwünschte Berührungen, körperliche Gewalt – und die Erpressung von sexuellen Gefälligkeiten. Besonders wichtig: Das Gesetz definiert sexuelle Belästigung über die objektive Wahrnehmung des Geschehens und nicht über die Absicht der belästigenden Person. Entscheidend ist als nur, ob ein bestimmtes Verhalten einen sexuellen Charakter hat und sich die betroffene Person dadurch belästigt fühlt.“
Hier wird, zu Recht, das objektive (nachweisbare/justiziable) Geschehen in den Mittelpunkt gerückt. Dies ist jedoch nicht nur von der „Absicht der belästigenden Person“ zu unterscheiden, die vielleicht auch unbewusst und ohne bösen Willen zum Stein des Anstoßes wird. Die „objektive Wahrnehmung des Geschehens“ ist auch nicht unbedingt identisch mit den Gefühlen des Opfers.
Was steckt genau hinter berichteter Diskriminierung?
Zudem kommt es, wie bei allen Umfragen und Studien, immer darauf an, wie Begrifflichkeiten interpretiert und konkretisiert werden. Letztlich bleibt unklar, was die 1.600 Filmschaffenden, die sich zu persönlichen Diskriminierungserfahrungen in jüngerer Zeit äußerten, konkret erlebt haben. Gerade das Thema „sexuelle Belästigung“ als ein Aspekt der Diskriminierung, für das die Öffentlichkeit mittels #MeToo stark sensibilisiert worden ist, umfasst ein weites Spektrum, das von als unangebracht und sexistisch empfundener Wortwahl (Frauen werden am Set als „Mädchen“ angesprochen, Männer beim Namen) bis zu kriminellen körperlichen Übergriffen reicht. Und „rassistische Diskriminierung“ ist ein ebenso schillernder Begriff.
Alles nur Klischees in Film und Fernsehen, zu wenig Grautöne?
Was die Kino- und Fernseh-Filminhalte angeht, ist bemerkenswert, wie viele soziale und ethnische Gruppen als „im Film klischeehaft dargestellt“ eingeschätzt werden. Dies unterstellt, dass man alle betrachteten Gruppen – „arabische Menschen“, „muslimische Menschen“, „türkische Menschen“, Homosexuelle – im Film als Darsteller/Figur immer klar identifizieren kann. Was fraglich ist.
Grundsätzlich sind die beiden Ebenen Schauspieler als Mensch und Schauspieler als Rollenfigur zu unterscheiden. Fraglos können Filmfiguren plump-schematisch konstruiert sein, können auch bestimmte Schauspieler mit immer gleichen Rollenzuweisungen in ein starres Korsett gezwängt werden. Offen bleibt, wie verbreitet solche Fälle sind.
Jenseits dessen stellt sich die grundsätzliche Frage, wie man Klischee-freie oder -arme (fiktive) Filmprodukte herstellt. Filmische Stoffe und Geschichten, soweit es sich nicht um Dokumentarfilme handelt, leben von stereotypen Rollen und archetypischen kulturellen Mustern. Krimis brauchen Bösewichte, Scifi-Serien brauchen Helden und strahlende Weltenretter, Komödien brauchen überzeichnete, komische, tollpatschige Charaktere. Wie ein „arabischer Mensch“ oder eine Muslimin oder eine „biodeutsche“ Frau im Arbeitermilieu „nicht klischeehaft“ darzustellen ist, klingt nach einem komplexen akademischen Thema. Ist das Gegenteil von klischeehaft ein realistisches Abbild der Wirklichkeit im Fernsehen und Kino? Für Letzteres müsste man von der betroffenen Gruppe eine Menge statistischer Daten vorliegen haben: Anteil an der Bevölkerung, Einkommens- und familiäre Verhältnisse, Beruf, usw. Wenn es denn Sinn und Zweck der Übung sein soll, in (fiktiven) Kino- und Fernsehproduktionen die Realität halbwegs getreu einzufangen. Letztlich gehen Filme wohl eher den Mittelweg zwischen Stereotypen und Blicken auf das wahre Leben.
Kommen Quotierungen?
Die vorgeschlagenen Änderungen laufen darauf hinaus, in der Film- und Fernsehbranche sorgsam darauf zu achten, welche Menschen mit welchen Merkmalen hinter der Kamera beschäftigt werden und welche Akteure mit welchen Merkmalen bei jeder Filmproduktion vor der Kamera in einer Rolle bzw. als schauspielernder Mensch agieren. Eine Sensibilisierung hierfür ist sicher sinnvoll. Diese Sensibilisierung könnte allerdings in eine konsequente Identitätspolitik und krampfhaftes Buchführen umschlagen. Die UFA ist hier Vorreiter. Sie hat sich freiwillig verpflichtet, „bis zum Ende des Jahres 2024 im Gesamtportfolio der UFA-Programme eines Jahres die tatsächliche Diversität der Gesellschaft abzubilden. Als Orientierung dient dabei der Zensus der Bundesregierung“. Sollten im Nachgang zu den VIF-Aktivitäten andere Filmförderungsinstitutionen der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein (FFHSH) folgen und Diversity Checklists für Development und Produktion für Spielfilme und fiktionale Serien erstellen, auch für den Spielfilmverleih, werden künftig vor allem Filmemacher Zuschüsse erhalten, die Migration und Vertreibung, People of Colour, mehrgeneratives Zusammenleben, eine ausgeglichene Repräsentation der Geschlechter in ihren Drehbüchern unterbringen und in der Crew hinter der Kamera genügend Frauen und diverse Personen einbinden.
Mit den Vergaberichtlinien verfolgt die FFHSH offen pädagogisch-politische Ziele. Man wolle, so Geschäftsführer Helge Albers,
„unsere vielfältige, multikulturelle Gesellschaft modern und in all ihren Facetten auf der Leinwand sehen“. „Durch die verpflichtende Beantwortung eines Fragenkatalogs bei Antragstellung wollen wir — ohne die künstlerische Freiheit oder arbeitsrechtliche Fragen zu berühren — zur tieferen Beschäftigung mit dem Thema und kritischen Überprüfung des eigenen Handelns anregen und ein besseres Verständnis dafür entwickeln, inwieweit die oben formulierten Werte in den bei uns zur Förderung beantragten Projekten schon abgebildet sind.“
Gesellschafter der FFHSH sind die Länder Hamburg sowie Schleswig-Holstein. Weitere Mittel kommen vom NDR, vom ZDF sowie aus einem vom Gesetzgeber festgelegten Anteil des Rundfunkbeitrags.
Niemand hat etwas gegen Filmprojekte, die kreative, spannende, ungewöhnliche Geschichten erzählen und unterschiedliche soziale und ethnische Gruppen einbinden. Die Frage stellt sich nur: Wird mit der bereichernden, per Selbstverpflichtung oder Vorgabe von außen nach statistischen Kriterien definierten „Vielfalt“ alles besser oder nicht im Ergebnis zu verbissen formalisiert? Letztlich muss der Film, mit einer stringenten interessanten Handlung, überzeugenden Charakteren mit jedwedem Merkmal und kluger „passender“ Besetzung, dem Publikum zusagen. Die grassierende Identitätspolitik dieser Tage hat nun aber das Potenzial, die künstlerische Freiheit und frei flottierende Kreativität zu überlagern, so wie Quoten in der Privatwirtschaft und in der Politik bzw. öffentlichen Verwaltung das Leistungsprinzip, das Kompetenz und Erfahrung als Priorität hat, überlagern können.
Und gänzlich unbeantwortet scheint bislang die psychologische, fast philosophische Frage, was die sich ausbreitende Identitäts- und Quotierungspolitik, die in allen Lebensbereichen Personen(gruppen) nach Merkmalen ordnet und Opfer und Täter unterscheidet, mit unserer Wahrnehmung und Gefühlswelt macht. Ob diese Politik nicht gerade fördert, dass wir Mitmenschen und Filmfiguren nicht als komplexe Persönlichkeiten, sondern primär als Merkmals-Träger ansehen.