Auch Krisen haben ihre guten Seiten, jedenfalls für Politiker. Die Corona-Epidemie trägt ohne Zweifel Züge einer schweren Krise. Aber, wie gesagt, alles hat sein Gutes. Corona hat der deutschen Regierung die Chance gegeben, im Dämmerlicht der allgemeinen Verwirrung und Angst endlich das durchzusetzen, was man im Geheimen wohl schon immer beabsichtigt hatte – jedenfalls gilt das für die SPD, aber wohl auch für große Teile der CDU: Aus der Währungsunion des EURO ist durch den sogenannten „Wiederaufbau-Fonds“ der EU eine echte Fiskalunion geworden.
Was heißt das? Es heißt, dass die EU faktisch in ein System des Länderfinanzausgleichs eingestiegen ist, wie es auch in Deutschland zwischen den Bundesländern besteht. Ziel ist es letzten Endes, über Transferzahlungen den Lebensstandard im gesamten Geltungsbereich der Fiskalunion schrittweise anzugleichen. Dass es darum geht, und nicht primär darum, die durch Corona entstandenen Schäden auszugleichen, sieht man daran, dass Länder, die zumindest 2020, als der Fonds beschlossen wurde, relativ wenig unter Corona gelitten hatten, aber relativ arm (wenn auch oft gering verschuldet) sind, dennoch pro Kopf der Bevölkerung recht hohe Summen erhalten.
Das jedoch ist eher unwahrscheinlich, namentlich dann, wenn auch noch die osteuropäischen Länder, wie geplant, dem Euro beitreten. Das wird dort das Wirtschaftswachstum vermutlich deutlich reduzieren – in der bisherigen Eurozone ist ein Aufholeffekt bei den schwächeren Ländern in den meisten Fällen ohnehin nicht feststellbar; zum Teil ist geradezu das Gegenteil der Fall. Im Grunde genommen müsste in Deutschland der Lebensstand wohl stark, im Extremfall auf das Niveau der 1960er Jahre sinken, um Gleichheit herzustellen. Das freilich wird die Grünen freuen, die ein solches Szenario wohl ohnehin größtenteils anstreben, weil Armut, wie wir eigentlich alle wissen, umweltfreundlich, moralisch gut und irgendwie auch divers und „bunt“ ist.
Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass die EU die Chance, auf eigene Faust Schulden zu machen in den nächsten 10-15 Jahren regelmäßig nutzen wird, um das Füllhorn ihrer Wohltaten über Ländern auszuschütten, die entweder ärmer sind als der Durchschnitt oder einfach nur stärker verschuldet, wie zum Beispiel Italien, das insgesamt sicher kein wirklich armes Land ist, aber eben seit rund 20 Jahren, also seit Begründung der Währungsgemeinschaft, kein wirkliches Wirtschaftswachstum mehr zu verzeichnen hatte und sich überdies ein recht üppiges Rentensystem leistet.
Irgendwann werden die Zinsen auf die gemeinsamen Schulden dann doch steigen, dann wird die Last des Schuldendienstes drückender und man wird nicht umhinkönnen, die gemeinsamen Schulden abzubauen, entweder über Zuwendungen der Mitgliedsstaaten an die EU oder über Einnahmen aus spezifischen Steuern der EU, die diese dann in eigener Regie erhebt. Genau das befürwortet ja auch der amtierende deutsche Finanzminister Scholz, der ein sehr sicheres Gespür dafür hat, wie man dem eigenen Land maximal schaden kann, und auf diesem Gebiet auch wirklich außerordentlich kompetent ist – man ist immer wieder beeindruckt. Diese Steuern würden dann freilich von einem Parlament in Brüssel beschlossen werden, das in seiner jetzigen Form nicht demokratisch gewählt ist und auch nicht so arbeitet wie ein normales Parlament, weil die gegenseitige Kontrolle von Regierungs- und Oppositionsparteien fehlt. Schon aus diesem Grund gibt es auch keine „accountability“ für Fehlentscheidungen, wie man ja am Impfstoffdebakel gerade sieht.
Das Ende des demokratischen Zeitalters naht – jedenfalls in der EU
Diese Perspektive lässt einem, wenn man noch an so etwas wie Demokratie glaubt – sicher, das ist eine altmodische Haltung, fast vorgestrig – die Haare zu Berge stehen, aber auch mit Blick auf das Grundgesetz ist die jetzt geschaffene Haftungsunion mit ihrer Tendenz zu immer größeren Transfers äußerst bedenklich. Wie z.B. der Verfassungsrechtler Matthias Herdegen in der FAZ (25. III. 21, S. 6: Einstieg in die Schuldenunion?) jüngst dargelegt hat, sind Einschränkungen des Budgetrechtes des Bundestages, die aus der Vergemeinschaftung von Schulden in der EU faktisch folgen, mit dem Grundgesetz in der jetzigen Form kaum verträglich. Das Budgetrecht ist nun einmal das eigentliche Palladium eines demokratischen Parlamentes. Verliert es dieses oder wird es massiv eingeschränkt, dann steht es auch um die Demokratie selber nicht mehr sehr gut, sie droht zur bloßen Fassade zu werden.
Um wenigstens formal das Recht zu wahren, müsste man, um die jetzt vorgenommene Übertragung neuer Kompetenzen (gemeinsame Schuldenaufnahme) an die EU zu legitimieren, nicht nur die europäischen Verträge ändern, sondern auch das Grundgesetz. Die Mehrheit dafür zu finden, wird vielleicht gar nicht so schwer sein, da außer der AfD allenfalls die FDP ein wenig zögern würde, einer solchen Verfassungsänderung, die letzten Endes auf die schrittweise Aufgabe der eigenständigen Staatlichkeit der Bundesrepublik hinausliefe, zuzustimmen, und selbst da könnte man sich nicht sicher sein. Aber die Politiker werden ungern die Karten auf den Tisch legen wollen; der Bürger soll ja auf keinen Fall merken, was da auf ihn zukommt.
Vor dem Verfassungsgericht ist jetzt freilich eine Klage gegen die Finanzierung des EU-Wiederaufbaufonds anhängig. Zur allgemeinen Überraschung hat Karlsruhe dem Bundespräsidenten einstweilen untersagt, das entsprechende Gesetz zu unterzeichnen. Es kann also zunächst nicht in Kraft treten. Dass das Gericht den Aufbaufonds endgültig blockieren wird, bleibt freilich unwahrscheinlich, denn in der Vergangenheit hat Karlsruhe zwar immer wieder Warnschilder aufgestellt, wenn es um die Auflösung der Staatlichkeit der Bundesrepublik und damit auch der verfassungsrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes ging, aber mehr hat es eben nicht getan. Es hat sich stets gehütet, durch seine Urteile eine echte Krise der EU-Politik auszulösen. Es spricht alles dafür, dass es dazu im Hauptverfahren auch diesmal nicht den Mut haben wird. Wohl aber könnte es eine Verfassungsänderung verlangen und eventuell auch eine Berücksichtigung der Verbindlichkeiten der Bundesrepublik im Rahmen der gesamtschuldnerischen Haftung für die Schulden der EU bei der Bemessung der nationalen Schuldenbremse. Damit wäre zumindest Transparenz hergestellt, und das wäre schon ein enormer Fortschritt. Es würde den Politikern weniger leichtfallen, ihren Wählern ständig nur Märchen (bei Trump hätte man von fake news gesprochen) zu erzählen.
Am Ende spricht dennoch viel dafür, dass auf Deutschland in den nächsten 10-20 Jahren die Haftung für gemeinsame EU-Schulden in Billionen-Höhe zukommen wird, trotz aller Bemühungen Karlsruhes, unsere Verfassung und unsere staatliche Existenz zu verteidigen. Allein und ohne politischen Rückhalt wird das Gericht die Entwicklung nicht stoppen können. Aber in gewisser Hinsicht haben unsere geschickten Nachbarn namentlich in Paris, die die naiven und meist wenig kompetenten deutschen Politiker so erfolgreich eingewickelt haben, die Rechnung doch ohne den Wirt gemacht.
Dieselben persönlichen Defizite, die deutsche Politiker daran hindern, in Brüssel elementare Interessen ihres Landes mit Nachdruck und Erfolg zu vertreten – oft haben sie ja nicht einmal den Willen dazu – wirken sich auch auf die Politik im eigenen Land aus. Diese Politiker sind eben, das sehen wir ja in diesen Tagen sehr klar, auch nicht fähig, ihr eigenes Land halbwegs erfolgreich durch eine ernste Krise zu führen. Widersprüchliche und halbherzige Beschlüsse, die Unfähigkeit, mittelfristig zu planen und Prioritäten zu setzen, dazu eine Bürokratie, die sich in ihren eigenen Vorschriften etwa zum Datenschutz ständig verhakt, das ist die Realität.
In der Zwischenzeit wird die EU-isierung von immer mehr politischen Zuständigkeiten auch immer mehr Fehlentscheidungen produzieren, schon deshalb, weil auf EU-Ebene faktisch niemand jemals konkret für Fehler durch Abwahl zur Rechenschaft gezogen werden kann. Dazu sind die Entscheidungsmechanismen auch zu intransparent, und die Verantwortung einzelner Politiker zu sehr hinter einer Konsensfassade verborgen, abgesehen davon, dass, wie schon betont, im EU-Parlament so etwas wie eine echte Opposition, die eine Regierung im Wartestand darstellt, fehlt. Nur, auch in einem Land wie Deutschland, dessen Bürger verlernt haben, über die Interessen ihres eigenen Landes in Europa auch nur nachzudenken, hat das Konsequenzen. Wie man in der jetzigen Krise sieht, schwindet das Vertrauen in die Politik und in den Staat. Das erschwert es dann, politische Maßnahmen umzusetzen, selbst vernünftige. Viele Bürger werden in Zukunft zunehmend zu einer stillen, eigentlich unpolitischen Verweigerungshaltung neigen, wie wir sie auch in Ländern wie Griechenland oder Italien von jeher kennen. Das wird faktisch dann natürlich den allgemeinen Niedergang nur noch beschleunigen.
Wem dieses düstere Szenario nicht gefällt, für den bleibt immer noch ein Trost: Er kann ja jederzeit auswandern. Großbritannien, das trotz anfänglicher gravierender Fehler durch geschickte Impfstoffpolitik am Ende vermutlich doch besser durch die Corona-Krise kommen wird als der Kontinent, bietet sich als neue Heimat auf jeden Fall an. Und mehr zu lachen hat man dort, trotz der Probleme, die auch das Vereinigte Königreich gelegentlich heimsuchen. Auf jeden Fall mehr als im moralistisch-ernsten Deutschland.