Die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden: Der eine bevorzugt südliche Pinienwälder, ein anderer Fahrten durch das Eismeer und seine baumlosen Inseln. Ulrich Schacht gehörte zur letztgenannten Spezies, wie der Band Im Schnee treiben eindrücklich zeigt, der nun in der dritten Lieferung der Reihe EXIL des Buchhauses Loschwitz erschien. Das Interesse Schachts für diese nördliche Kargheit scheint unermesslich gewesen zu sein. Allein die hier gesammelten Essays führen von Bell Island (Neufundland) über Spitzbergen bis nach Franz-Josef-Land in der Oblast Archangelsk, wo Schacht auf den Spuren des böhmischen Militärtopographen Julius Payer wandelt und Inseln namens Wiener Neustadt und Erzherzog Rainer neu entdeckt. An der Kurischen Nehrung fühlte sich bekanntlich auch Thomas Mann wohl.
Es sind Reisetagebücher aus abgelegenen Weltgegenden, in die wohl die meisten von uns nicht so bald vordringen werden. Trotzdem üben diese kargen Küsten am kühlen Meer eine seltsame Faszination aus. Schacht nennt sie »ein Land jenseits menschlichen Wissens, aber diesseits der Phantasie«. Das trifft recht genau den Ton dieser Reisetagebücher, in denen man der Realität mit dem Schriftsteller zu entfliehen meint und doch ständig wieder auf deren harten Boden zurückfällt. Wo der Reporter Schacht die Landschaft beschreibt, transzendiert sie der Theologe, nur damit der Philosoph Schacht beide Dimensionen am Ende zusammendenken kann.
Schacht war einer jener Geister, die die Tendenzen der Zeit sprunghaft und explosiv zu Ende denken, sich dabei gelegentlich am Himmelsstoff versengen und darüber so dunkel wie Heraklit werden.
Daneben finden sich in dem Nachlassband – Schacht starb im September 2018, in diesen Tagen wäre er 70 Jahre alt gewesen – zuvor verstreut veröffentlichte Texte zur Dichtungstheorie sowie Würdigungen und Dankesreden des Lyrikers Schacht. 1976 war der im Frauengefängnis Hoheneck Geborene und so quasi pränatal zum Widerstand Bestimmte in die Bundesrepublik »entlassen« worden. Das zweite Leben, das ihm so geschenkt wurde, füllte der evangelische Theologe mit neuen Studien der Politik und Philosophie, bevor er ab 1984 Feuilletonredakteur und Chefreporter bei Welt und Welt am Sonntag wurde. Kurz darauf begründete er mit anderen die Evangelische Bruderschaft vom St.-Georgs-Orden.
Eines seiner besten Argumente für die andauernde Möglichkeit der Naturpoesie: »Die Sonne, sagen die Bohrkerne, hat ihren eigenen Rhythmus, kosmisch grundiert; wir können ihn bestreiten, aber wir tanzen in ihm.« So schreibt sich Schacht, durchaus munter, zum Teil mild-verschroben, mit Gedanken, die sich überschneiden und manchmal übereinander herfallen, in eine weltlich-geistliche Poesie-Predigt hinein. Seine charakteristische Bewegungsform ist die Doppelhelix zwischen Physis und Metaphysik. Dichtung gilt Schacht – mit Václav Havel und Seamus Heaney – als »hoffnungsvoller Geisteszustand«, der im Transzendenten wurzelt. Und so wird die Poesie zu »einer anderen Wahrheit« als der, die wir sonst kennen – das Gedicht gilt ihm als Freiheitsereignis, wie auch Heimo Schwilk in seinem Vorwort zu dem Band bemerkt.
In diesem Zeichen rief Schacht kurz vor dem neuen Millennium zu einer »Re-Mythisierung« im neuen Jahrhundert auf (in Der Ton der Freiheit, 1998). Diese Forderung bricht in dem kurzen Text noch ungeschlacht hervor. In den späteren versuchte Schacht, sie weiter zu beleuchten, so vor allem in einer Hypothese über »den einen Ursprung von Gedicht und Gebet«, die nun wirklich auf die ältesten Grundlagen der Dichtung zurückgeht und wie folgt endet: »›Es gibt keine religiöse Poesie‹, hat Rudolf Borchardt in ›Das Geheimnis der Poesie‹ gesagt, ›denn Poesie ist immer Religion‹. Woher er das wußte? Eine Antwort darauf gab 1963, dreiundreißig Jahre nach Borchardts Rede an der Berliner Universität, ein russischer Dichter, und er gab sie vor dem Gericht einer a-theistischen Diktatur, der Sowjetunion, das ihn aus politischen Gründen angeklagt hatte. Auf die von unfreiwilliger Komik nicht unfreie Frage des Gerichts, ›wer ihn dazu befugt habe, sich als Dichter zu bezeichnen, obwohl er kein Mitglied des Schriftstellerverbands sei‹, antwortete der spätere Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky mit leiser aber fester Stimme: ›Gott‹«.
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Damit ist ein Grundthema angesprochen, das auch in den beiden anderen Bände dritten Lieferung der Reihe EXIL immer wieder anklingt. In Auf zum letzten Gefecht zeigt Thomas Naumann, wie zwei Dramatiker der Jahrhundertmitte die Sprache der Bibel – teils blasphemisch, teils zur Pathoserzeugung – verwenden, um einen Traum vom Neuen Menschen zu entwerfen. Das ist sozusagen der Vorläufer-Akt zu Schachts Problem: Säkularisierung und Desakralisierung, wie sie sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts ereigneten.
Zunächst erzählt Naumann vom Leben Eugen Berthold Brechts mit der Bibel, das ein doppeltes ist. Brecht, der später jede Art von Frömmigkeit verachtete, lernte die Bibel vor allem durch die Erzählungen seiner weltklugen Großmutter kennen. Indem Naumann den biblischen Zitaten und Stilimitaten in Brechts Werken nachgeht, öffnen sich viele Hintertüren im Werk des Schriftstellers.
Zwischendurch gewinnt Naumann seinem Thema unscheinbare, doch wahre Aphorismen ab: »Auch Jesus fordert nicht, gut zu sein, sondern, das Gute zu tun.« Und so ruft auch Brecht gern, die Bibel nutzend, zur Tat auf. Am Ende scheinen sogar Werbeslogans unserer Zeit auf die biblisch durchformte Sprachgewalt Brechts zurückzugehen. So wird im Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny die ethische Regel »Du darfst!« als neues Gesetz menschlichen Glücks proklamiert.
Im zweiten Teil des Buches geht Naumann auf das dramatische Werk seines jüdischen Vaters Friedrich Wolf ein, in dem ebenfalls biblische Motive auftauchen. Die Information der Ideologien des 20. Jahrhunderts durch biblische Aussagen und Ideen – man könnte auch sagen, den Missbrauch der Bibel in diesem Namen – führt Naumann bis an unsere Gegenwart heran und schließt für sich mit einem aufklärungshellen Fazit.
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Der dritte, hier zu besprechende Band braucht wohl am wenigsten Werbung. Man muss ihn nur aufschlagen, dann schlagen die Funken heraus. In Matthias Matusseks Essaysammlung Außenseiter sind abenteuerliche, unterhaltsame Feuilletons im besten Sinne gesammelt, die teils noch im Spiegel, zum Teil in der Weltwoche und auch im Magazin Tichys Einblick erschienen. Um dieses Genre quasi zu »begründen«, greift Matussek gleich zu Beginn auf den Urvater des deutschen Feuilletons zurück, wie er zurecht festhält: das ist natürlich Heinrich Heine. Matussek inspiriert sich so gleichsam am geistigen Surplus des großen Düsseldorfers, um es – als lebendige Flamme, nicht abgetane Asche – an uns weiterzugeben. Er setzt sozusagen jenes Verfahren mit Leichtigkeit um, das Ulrich Schacht mit größerer Mühe aus den Bruchstücken der neueren und ältesten Dichtung rekonstruierte.
Zum Teil sind das Klassiker der Reportage, die bis in Vor-Vereinigungs-Zeiten zurückführen. Die Stimmung in der neugeöffneten DDR hat kaum einer anschaulicher beschrieben. Und auch die westdeutsche Theaterszene der Achtzigerjahre wird von neuem lebendig. Hier kann einer wirklich bildhaft und ergreifend schreiben, durchsetzt mit wahren Zitaten: »Kunst ist, was bleibt« (der Filmregisseur Hans Jürgen Syberberg). »Kunst ist, was man beschwört« (die Schauspielerin Edith Clever). »Selbst die Neger haben eine Demokratie, nur wir nicht« (ein DSU-Redner in Anklam, 1990).
Nicht nur der Besuch bei Rüdiger Safranski, mit dem er über Hölderlin-Faksimiles sitzt, liest sich wie gemalt. Dieses Wandeln in fremden Hallen scheint Matussek enorm anzuregen. Eigentlich sollte er eine Kolumne oder besser eine Netflix-Serie mit dem Titel »Besuch bei…« haben. Aber wem sage ich das.
Ulrich Schacht, Im Schnee treiben. Essays zum poetischen Weltverständnis. Reihe EXIL in der Edition Buchhaus Loschwitz, 264 Seiten, 19,00 €
Thomas Naumann, Auf zum letzten Gefecht. Reihe EXIL in der Edition Buchhaus Loschwitz, 264 Seiten, 19,00 €
Matthias Matussek, Außenseiter. Von Rebellen, Heiligen und Künstlern auf der Klippe. Reihe EXIL in der Edition Buchhaus Loschwitz, 216 Seiten, 19,00 €