Tichys Einblick
Neue Analyse eines Forschungsinstituts

Krankenkassen: Beiträge könnten bis 2030 um bis zu 40 Prozent steigen

Auf Versicherte in den Gesetzlichen Krankenkassen könnten massive Beitragserhöhungen zukommen. Die Deckungslücken dürften „beträchtlich“ sein, heißt es in einer neuen Analyse. Doch eine Reaktion der Politik erwarten Krankenkassen-Vertreter erst nach der Bundestagswahl. Von Elias Huber

imago Images/Tagesspiegel

Die Gesetzlichen Krankenversicherungen stehen womöglich unter größerem finanziellen Druck, als bislang bekannt war. Das besagt eine Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Krankenversicherungen (WIP). Demnach könnte der allgemeine Beitragssatz von 14,6 Prozent im vergangenen Jahr auf 15,5 bis 20,6 Prozent im Jahr 2030 ansteigen. Im schlimmsten Fall bedeutete das also einen Anstieg von über 40 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Für das Jahr 2040 rechnen die Autoren sogar mit einem Anstieg auf 16,7 bis 28 Prozent.

Dabei halten die Forscher das Szenario von 15,5 und 16,7 Prozent in den Jahren 2030 und 2040 für einen “eher unrealistisch optimistischen Ausdruck”. In dieser Prognose galt die Annahme, dass Ausgaben und Einnahmen im Gesundheitsbereich in gleicher Höhe ansteigen und somit die Ausgaben nicht kräftiger wachsen als die Einnahmen. Zu erwarten sei vielmehr ein Anstieg auf 17,6 Prozent bis 20,6 Prozent bis zum Jahr 2030, schreiben die Forscher des WIP – und auf 20,9 Prozent bis 28 Prozent im Jahr 2040.

Die Autoren nahmen bei allen Prognosen an, dass der Bund jedes Jahr die Krankenkassen mit 14,5 Milliarden Euro bezuschusst. Den durchschnittlichen Zusatzbeitrag schätzten sie auf 1,1 Prozent im Jahr 2020 und auf 1,3 Prozent in den darauffolgenden Jahren. Zudem vermuteten sie steigende Einnahmen der Gesetzlichen Krankenkassen. Angesichts der Corona-Krise und der Verrentung der Babybommer sei aber auch denkbar, dass die Einnahmen stagnierten, geben sie zu bedenken.

Laut der Analyse wird der Staat große Schwierigkeiten haben, dass Gesundheitssystem über Zuschüsse weiter zu stützen. Ab dem Jahr 2022 sei mit Deckungslücken zu rechnen, die “beträchtlich” sein dürften. Im optimistischen Szenario, dass die Autoren für wenig wahrscheinlich halten, läge der Fehlbetrag bei 30 Milliarden Euro. So viel müsste der Staat in die Krankenkassen pumpen, um den Beitragssatz bei 14,6 Prozent zu halten und den Zusatzbeitrag im Schnitt bei 1,3 Prozent. Realistischer sei aber ein Fehlbetrag zwischen 70 und 128 Milliarden Euro. “Ob Steuerzuschüsse in diesen Dimensionen politisch durchsetzbar sind, darf bezweifelt werden”, heißt es. Derzeit beträgt der Steuerzuschuss des Bundes noch 14,5 Milliarden Euro.

Laut dem Papier schätzen das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesamt für Soziale Sicherung die Deckungslücke für das Jahr 2020 auf 17,6 Milliarden Euro – einschließlich der Corona-Kosten. Im Jahr 2021 sollen die Gesetzlichen Krankenkassen sogar 19,9 Milliarden Euro weniger einnehmen, als dass sie ausgeben. Insgesamt rechnen die beiden Institutionen mit Ausgaben von 257,8 Milliarden Euro für das Jahr 2020. Allein das wäre ein Anstieg um 4,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Grund für die Verluste sei zuvorderst nicht die Corona-Krise, sondern teure Gesetzesänderungen in den vergangenen Jahren, heißt es. Laut der Analyse dürfte nur ein Fünftel der Finanzierungslücke des Jahres 2020 auf die Corona-Krise zurückzuführen sein. Vielmehr sei es unter den CDU-Ministern Hermann Gröhe, der von 2013 bis 2018 Bundesgesundheitsminister war, und Jens Spahn zu einem “beschleunigten Ausgabenanstieg” gekommen. Die Ausgaben pro Versichertem seien jährlich um satte 3,7 Prozent zwischen 2013 und 2019 gestiegen, während die Einnahmen aufgrund des wirtschaftlichen Wachstums zwar stärker als in den Vorjahren, aber nur um 2,7 Prozent wuchsen.

Ursache seien Reformen gewesen, welche die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherungen erhöhten. Die Analyse nennt etwa das Krankenhausstrukturgesetz, das Terminservice- und Versorgungsgesetz und das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz. Allein die Gesetzesänderungen unter Jens Spahn verursachten laut dem AOK-Bundesverband Mehrausgaben von 32,6 Milliarden Euro in den Jahren von 2019 bis 2022, schreiben die WIP-Forscher.

Doch auch die demographische Entwicklung und der medizinisch-technische Fortschritt würden die Gesundheitskosten nach oben treiben. Kämen derzeit noch drei Erwerbstätige auf einen Rentner, sinke das Verhältnis auf zwei zu eins im Jahr 2040, schreiben die Autoren. Insbesondere der Eintritt der Babyboomer in die Rente lasse erwarten, dass die Einnahmen und Ausgaben weiter auseinander gehen, heißt es. Bereits in den zwanzig Jahren seit 1999 seien die Ausgaben um 3,2 Prozent im Jahr gestiegen, während die Einnahmen nur um 1,8 Prozent wuchsen.

Für die Zukunft erwarten die Autoren denn auch eine Debatte darüber, ob der Staat die Leistungen der Gesetzlichen Krankenkassen kürzen oder die Beiträge erhöhen solle. “GVK-Versicherten muss also klar sein, dass die finanzielle Schieflage der GVK weiterhin existiert”, betonen sie.

Auch andere Krankenkassen-Vertreter schlugen angesichts ausufernder Gesundheitskosten Alarm. Im Februar erklärte der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, Martin Litsch, gegenüber der Welt: „Das dicke Ende für die gesetzliche Krankenversicherung kommt erst noch.“ Er rechnete mit einem Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbeitrags auf 2,5 Prozent – das wäre laut ihm fast eine Verdopplung. Die Gesetzliche Krankenversicherung würde dann 17,1 Prozent des Bruttolohns verschlingen. „Werden nach der Bundestagswahl nicht schnell entsprechende Steuerzuschüsse für die GKV organisiert oder unpopuläre Spargesetze auf den Weg gebracht, stehen die gesetzlichen Kassen vor massiven Beitragssatzanhebungen“, sagte Litsch weiter.

Auch Doris Pfeiffer rechnete offenbar damit, dass die Politik erst nach der Bundestagswahl die Probleme angeht. „Die Frage der nachhaltigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wird spätestens nach der Bundestagswahl ganz oben auf der politischen Agenda stehen. Denn die Reserven der Kassen werden dann aufgebraucht sein, und auch der Gesundheitsfonds dürfte wegen der Wirtschaftsentwicklung Schwierigkeiten bekommen”, sagte die Vorsitzende des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen gegenüber der Welt.

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