Warum sollte eine fortgeschrittene und wohlhabende Gesellschaft selbst die Grundlagen für ihren eigenen Verfall schaffen? Dieser Gedanke erscheint zunächst so widersinnig, dass man die Möglichkeit seiner Realwerdung am liebsten kategorisch ausschließen möchte. Nichtsdestotrotz schildert der Schriftsteller Joel D. Hirst hier sehr eindrücklich, wie es sich anfühlt, Zeuge des Selbstmordes eines eigentlich zivilisierten Landes, in seinem Falle Venezuelas, zu werden. Kurz gesagt, es ist alles andere als ein Vergnügen, aber es kam auch alles andere als überraschend.
Nun ist Deutschland nicht Venezuela. Nichts von dem, was die venezolanische Bevölkerung momentan durchmachen muss, ist mit dem Leben in Deutschland vergleichbar. Der Prozess des Niedergangs ist dort dank des Sozialismus des 21. Jahrhunderts viel schneller und dramatischer vorangeschritten, als es in Mitteleuropa in nächster Zeit vermutlich möglich sein wird. Aber dennoch – die Grundlage dafür wurde auch hier längst gelegt.
Mittelmäßigkeit wirkt langfristig
Wann der erste Stein auf dem langen Weg hinab in die Mittelmäßigkeit gelegt wurde, ist im Nachhinein nur noch schwer zu rekonstruieren. Meinem Gefühl nach kommt jedenfalls immer dann ein weiterer hinzu, wenn jemand in einer ihm anvertrauten Position versagt, aber anstelle von Kritik, Tadel oder gar Strafe nur einen aufmunternden Klaps auf den Rücken und die Worte „Du hast dich ja immerhin bemüht“ erhält. Dieses Prinzip hat auch in der Politik schon länger die Vorherrschaft übernommen, als es den meisten bisher bewusst gewesen ist – und so wacht man dann eines Tages auf und wird von Leuten regiert, die einen Nachfrageüberschuss auf dem Wohnungsmarkt mit einer Mietpreisbremse bekämpfen und mit mehrheitlich ungebildeten Immigranten die Rentenkasse befüllen wollen.
Auch hier deutet sich eine Parallele zu dem an, was Joel Hirst in Venezuela erfahren musste: Man kann die Verantwortlichen vor den Folgen ihrer Pläne warnen, man kann sie ihnen vorrechnen und man kann sie sogar nach ihrem Eintreten darauf hinweisen – es bringt nichts. Denn damit es eine Wirkung hätte, müsste zuerst einmal Inkompetenz als selbstverschuldet und beklagenswert angesehen werden, während gleichzeitig ein Bewusstsein dafür herrschen müsste, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Stattdessen leistet sich Deutschland eine Regierungschefin, die im Fernsehen zugibt, dass die von ihr zugelassene und beförderte unkontrollierte Einwanderung von Terrororganisationen dazu genutzt wurde, um Kämpfer und Attentäter einzuschleusen – und danach wieder in die Sommerferien abdampft. Eine beeindruckende Nachsicht des Landes, das noch vor wenigen Jahren einen Bundespräsidenten auf Grund einer Urlaubsreise und eines verbilligten Hauskredits in den Vorruhestand geschickt hatte.
Verantwortungsabwälzung auf die Verhältnisse
Wenn man wissen will, wie und durch wen diese Haltung so erfolgreich befördert worden ist, muss man nur die gängigen Presseerzeugnisse aufschlagen, insbesondere die „linksliberalen“. So hält eine Bloggerin im Dienste einer überregionalen Wochenzeitung fest, dass nach dem Mord an einer vierfachen Mutter, einem Axtangriff auf eine Familie und einem Selbstmordanschlag, allesamt von Flüchtlingen begangen und zum Teil direkt aus dem Nahen Osten gesteuert, „jeder Gewaltausbruch auch ein Produkt der eigenen Gesellschaft“ ist. Somit wird das individuelle menschliche Versagen der Täter und derer, die ihre Gefahren unterschätzt und kleingeredet haben, zu einem Versagen der Gesellschaft, also aller, umgekehrt – und wo alle gemeinsam versagt haben, gibt es keinen Anlass zu individueller Verantwortung.
Zudem kann man Merkel nicht vorwerfen, dass sie nicht immerhin ganz doll und entschlossen versucht hätte, das zu tun, was als moralisch korrekt angepriesen wird. Nichts anderes hat Venezuela in wirtschaftspolitischer Hinsicht getan. Die dortige Regierung hat wichtige Industrien verstaatlicht und neoliberale ausländische Konzerne aus dem Land geworfen. Sie hat den Märkten die Macht über die Preise entrissen und sie in die Hände der demokratisch gewählten Repräsentanten des Volkes gelegt. Sie hat von Gewinnsucht getriebenen Privatunternehmern zuerst das Produzieren unmöglich gemacht und sie dann ins Gefängnis geworfen, als ihre Produktion die staatlichen Quoten zur gerechten Versorgung des Volkes nicht mehr erfüllen konnte. Venezuela hat jede moralische Binsenweisheit unserer Tage gewissenhaft umgesetzt. Es hat nicht funktioniert und jetzt sterben dort Menschen, weshalb sich ein betretenes Schweigen über die Ursachen des Untergangs breitgemacht hat – aber weil Venezuela es immerhin versucht hat, muss man abwarten, ob es und seine geistigen Förderer am Ende nicht doch zumindest die moralische Oberhand behalten werden. Gleiches gilt in unseren Breitengraden für die, die heute noch empfehlen, „Zuversicht aus[zu]strahlen und endlich daran mit[zu]wirken, dass die Integration von Flüchtlingen zur Chance für uns alle wird.“ Sie werden später vielleicht einmal behaupten, dass sie getan hätten, was sie konnten. Darüber, dass sie nicht viel konnten und nicht wussten, was sie taten, möge man bitte hinwegsehen.
Was diesen gesellschaftlichen Marsch in ihren stinkenden Sumpf der Schlamperei und der Fäulnis neben seinem eigentlichen Geschehen und dem Wissen um seine Vermeidbarkeit zu einer Qual macht, ist die Langsamkeit seines Voranschreitens. Würde die Katastrophe wenigstens schnell und drastisch einsetzen, hätte man sie ebenso schnell hinter sich und könnte beginnen, die Trümmer zu beseitigen. Aber im ach so beschleunigten Zeitalter der Globalisierung und des Internets offenbart uns die Welt die gnadenlose Langsamkeit ihres Voranschreitens und vermittelt uns eine Idee davon, wie viel Zeit die Menschheit wohl schon mit untätigen Händen auf das Warten auf einen schließlich durch Unerträglichkeit herbeigeführten Wandel verschwendet haben muss. „No, there is nothing heroic or epic here; ruins in the making are sad affairs.” (Joel D. Hirst)