„Anne Will“ gestern Abend gehört zu den Sendungen, bei denen es sich lohnt, sie unter der Rubrik „Aufbewahren für alle Zeit“ zu archivieren. Denn es war ein wenig so, als sehe man nacheinander geschaltete Situationsberichte von den einzelnen Decks der „Titanic“ in der Nacht ihres Untergangs. Während unten bereits das Wasser in Massen in das Schiff hineinströmt, diskutieren im Zwischendeck mehr oder weniger erfahrene Bootsmänner und Nautiker noch mögliche Auswege und wird gleichzeitig im Oberdeck bei flotten Rhythmen noch mit Champagner angestoßen, und der Kapitän beruhigt zum wiederholten Male mit der Nachricht: „Kein Grund zur Panik, es handelt sich nur um kleine Haar-Risse, verursacht durch einige zu heftige Schiffsbewegungen“.
Bootsmann Lauterbach täuscht sich, wenn er meint, die Mehrheit trotte wie gewohnt mit. Die Wahrheit im Unterdeck ist die Erkenntnis: „Die da oben versprechen, aber liefern nicht.“ Das Vertrauen ist einfach durch Dilettantismus und Arroganz im Oberdeck zerstört worden. Richtig Mitleid konnte man in der Sendung mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU) empfinden. Als einer der wenigen redlichen Politiker sah man ihm buchstäblich an, unter welchen Qualen er wortreich versuchte, dem Trauerspiel aus Berlin noch etwas Gutes abzugewinnen.
Die Präsidentin des Hotel- und Gaststättengewerbes, Angelika Inselkammer, eine Vollblut-Unternehmerin, und die beherzte Pandemie-Beauftragte der Stadt Tübingen, Lisa Federle, zeigten beide, an was es bei der Bewältigung der Pandemie wirklich fehlt: Empathie und Leidenschaft. In dieser Bundesrepublik gibt es Millionen, die schon vielfach – jeden Tag – bewiesen haben, dass sie eigenverantwortlich für die Gemeinschaft handeln können. Im kommunikationsscheuen und unterkühlten Machtzentrum der Kanzlerin ist so etwas schlicht nicht erwünscht. Man traut niemandem und glaubt nur an sich selbst und einer handverlesenen Zahl williger Experten. Hinzu kommt beim ausführenden politischen Management die gelebte Leichtigkeit des Seins, die, und man muss es so klar sagen, immer wieder in Unfähigkeit mündet.
Eine weitere Offenbarung gestern abends war die im Eifer des Gefechts vorgetragene Erkenntnis, dass die sehnsüchtig erwarteten Selbstests nur von sehr bedingter Aussagekraft wären, sozusagen die Wassermassen jetzt schon das Zwischendeck geflutet haben. Aber was soll’s? Mit dem Schlimmsten wird ja eh schon gerechnet. Lauterbachs Augen verrieten es: Der Mega-Superlockdown drohe schon im April, wenn der Inzidenzwert explodiert.
Noch eines ließ zu später Stunde aufhorchen. Die größte Infektionsgefahr, so Haseloff, lauere in den Betrieben der Großindustrie. Die Wirtschaft aber verweigere sich. Lauterbach assistierte mit der Feststellung, dass ein geplantes Spitzentreffen mit der Top-Garde der deutschen Unternehmer in der vergangenen Woche abgesagt wurde, weil die Herren nicht gleich nach Merkels Taktstock tanzen wollten. Ein Schuldiger für das unausweichliche Desaster ist also schon gefunden. Die wirklichen Rechnungen werden dem deutschen Steuerzahler und den Sozialkassen erst nach der Bundestagswahl präsentiert. Und Übeltäter Nummer 2 seien bestimmte Journalisten und Zeitungen, die unverantwortlichen Druck erzeugten. Noch Fragen? „Anne Will“ gestern Abend hat sich jedenfalls gelohnt. Ahoi.