Herr Toprak, als Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinden in Deutschland stehen Sie für einen bedeutenden Teil der türkei-stämmigen Deutschen. Hat sich seit dem Putsch in der Türkei und dem Staatsstreich von oben etwas geändert?
Ja und nein. Als Menschen mit kurdischen Wurzeln standen wir schon immer unter der besonderen Beobachtung der türkischen Sicherheitskräfte. Für die Türkei ist jeder Kurde potentieller Terrorist. Insofern ist eine solche Ausnahmesituation, wie sie aktuell spürbar wird, für uns nicht wirklich neu. Trotzdem war es uns beispielsweise jederzeit möglich, in die Türkei zu unseren Verwandten zu reisen. Im Moment allerdings ist das nicht mehr empfehlenswert.
Gehen Sie davon aus, ähnlich den Gülen-Anhängern auf irgendwelchen Schwarzen Listen zu stehen?
Natürlich habe ich eine solche Liste mit meinem Namen noch nicht gesehen. Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass die Türkei jeden, der sich in irgendeiner Weise für die Belange der Kurden einsetzt, im Visier hat. Das aber ist schon seit vielen Jahren so. Aktuell nun kommt hinzu, dass jeder, der auch nur den Hauch von Kritik an Erdogan laut werden lässt, in die Gefahr gerät von nationaltürkischen Nachbarn unmittelbar denunziert zu werden. Die Türkei hat auch in Deutschland lebende Türken und Türkeistämmige dazu aufgefordert, jeden Kritiker sofort nach Ankara zu melden. Als Kurden gelten wir sozusagen als Top-Level-Verdächtige.
Sie machen aus Ihrer Kritik an dem Erdogan-Regime keinen Hehl. Können Sie noch in die Türkei reisen?
Einreisen vermutlich schon – ob ausreisen? Ich werde das Risiko nicht eingehen, was ich sehr bedauere – aber die persönliche Sicherheit geht vor.
Sie sind jüngst in den Fernsehrat des ZDF entsandt worden – unmittelbar anschließend wurden sie von in Deutschland erscheinenden Medien türkischer Mitbürger auf das Schärfste attackiert. Man bezeichnete Sie als PKK-Anhänger, startete Petitionen mit dem Ziel, sie aus dem Fernsehrat zu entfernen.
Das ist einer der Punkte, die mir zu denken geben. Als angeblicher PKK-Terrorist sind sie in der Türkei quasi vogelfrei. Wenn aus der Türkei gesteuerte Medien entsprechende Lügen verbreiten, dann ist das aus Ankara abgesegnet. Muss ich dazu noch mehr sagen?
Nein. Aber lassen Sie uns auf den Vorwurf zu sprechen kommen. Schließlich gilt die PKK auch in Deutschland als Terrororganisation.
Das ist so. Es soll auch nicht drum herum geredet werden: Die PKK ist als Organisation gestartet, die Gewalt als legitimes Mittel im politischen Kampf ansieht
und ihre Waffen bis heute nicht abgelegt hat.
Sie ist im Moment deswegen als eine terroristisch eingestufte Organisation verboten.
Sicherlich ließe sich trefflich darüber streiten, wo eigentlich die genaue Trennlinie zwischen der Selbstverteidigung eines unterdrückten Volkes und einer Terrororganisation zu ziehen ist. Die PLO startete dereinst als Terrororganisation und gilt heute in den UN als legitime Vertretung eines palästinensischen Volkes, das es früher nie gegeben hat.
Die Kurden sind aber schon länger in der Türkei als die Türken selbst. Und sie wurden seit eh und je von den osmanischen und türkischen Herrschern drangsaliert. Auch hatte die PKK schon vor Jahren dem bewaffneten Kampf gegen die Türkei abgeschworen und sogar auf die Forderung nach Eigenstaatlichkeit verzichtet. Es ging nur noch um die Selbstverwaltung innerhalb einer föderativen Türkei. Erst als Erdogans Erwartung, mit den Stimmen aus Kurdistan die notwendige Parlamentsmehrheit zur Einführung seiner Präsidialdiktatur zu erhalten, trotz einer 10-Prozent-Hürde nicht erfüllt wurde, nahm die Türkei unter Bruch eines bestehenden Waffenstillstands einseitig den Beschuss der PKK im Nordirak wieder auf und verfolgt seitdem innerhalb ihres Staatsgebiets jeden Kurden, der auch nur in den Verdacht der Erdogan-Untreue gerät, wie einen Terroristen. Manche Kurdenstädte in der Türkei unterscheiden sich mittlerweile kaum noch von den verwüsteten Städten in Syrien. Das könnte schon Anlass bieten darüber nachzudenken, wer eigentlich Terrorist ist und wer nicht.
Wer die PKK-Gewalt kritisiert, muss auch den Staatsterror der Türkei kritisieren.
Weder Terroranschläge im Namen der Unterdrückten noch der staatliche Terror der Unterdrücker ist legitim.
Die Kurdische Gemeinde Deutschlands lehnt Gewalt in jeder Form ab.
Wir sind jedenfalls weder ideologisch noch organisatorisch mit der PKK auf irgendeine Art und Weise verbunden. Nicht umsonst werden wir immer wieder von PKK-nahen Kreisen als Zöglinge der Bundesrepublik kritisiert.
Bleiben wir noch einmal bei den Kurden zwischen Euphrat und Tigris. Im Nordirak scheint gegenwärtig ein unabhängiger Kurdenstaat zu entstehen. Einerseits könnte das eine Keimzelle für ein Groß-Kurdistan sein – andererseits scheinen die verschiedenen Kurden-Clans tief untereinander zerstritten.
Sie sprechen da zwei wichtige Punkte an. Zum einen: Ja, es deutet einiges darauf hin, dass das autonome Kurdengebiet im Irak zu einem souveränen Staat werden könnte. Präsident Masud Barzani hat mittlerweile sogar zu nicht-muslimischen Religionsgruppen Kontakt aufgenommen, um diese für dieses Projekt zu gewinnen. Die Voraussetzungen sind gut, weil im demokratisch gewählten Parlament des autonomen Kurdengebiets nicht nur die Frauenrechte sondern auch die Minderheitenrechte verfassungsrechtlich verankert sind. Trotz mancher Anfeindungen gegen die Sippe des Präsidenten, denen gelegentlich Korruption und Vetternwirtschaft unterstellt wird, verfügt dieses Gebiet im Vergleich zu allen Nachbarländern über eine funktionsfähige Demokratie. Damit könnte ein Kurdenstaat im Nordirak tatsächlich zu einer Art Leuchtturm in der Region werden – wenn vielleicht auch mit dem einen oder anderen Rostfleck auf dem Spiegel. Aber wo ist das nicht so? Dass eine perfekte Demokratie vom Himmel fällt, kann niemand erwarten. Sie will aufgebaut sein.
Zum anderen: Ja, das ist das alte Problem der Kurden. Sie sind immer wieder untereinander zerstritten. Genau das nutzen ihre Gegner – und das sind nicht wenige – aus. Deshalb waren die Kurden in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Verlierer, als die Zusage der Gewinner des ersten Weltkrieges auf einen autonomen Kurdenstaat stillschweigend einkassiert wurde. Deshalb gelang es den Gegnern der Kurden immer wieder, deren Selbstbestimmungsrecht auszuhebeln. Und deshalb droht auch jetzt die Gefahr, sie bösartig als Konglomerat untereinander verfeindeter Bergvölker zu diskreditieren.
Ich bin kein Vertreter der Kurden in der Türkei, in Syrien oder im Irak. Ich vertrete als Deutscher die Deutschen mit kurdischen Wurzeln. Aber ich kann allen Seiten in ihrem eigenen Interesse nur empfehlen, die Zwistigkeiten zu überwinden und endlich geschlossen aufzutreten. Ob sie das schaffen, indem sie alle endlich über ihre Schatten springen oder ob sie von mir aus so etwas wie eine große kurdische Nationalversammlung einberufen, um ihre gemeinsamen Ziele zu definieren, das ist ausschließlich ihre Sache. Mit ihren gegenseitigen Animositäten und Eifersüchteleien aber verspielen sie die vielleicht die einmalige Chance, die sie im Moment haben.
Sie sehen also eine reale Chance, dass es ein geeintes Kurdistan geben kann?
Wenn Sie das real in Klammern setzen – ja. Die Kurden im Irak ebenso wie die Kurden in Syrien und selbst die Kurden der PKK kämpfen seit geraumer Zeit an der Seite der US-geführten Anti-IS-Koalition. Sie sind, wenn man so will, die Bodentruppe der Allianz. Und sie sind dabei erfolgreich. Sie sind auch deshalb erfolgreich, weil sunnitische Kurden an der Seite von chaldäischen Christen und Eziden kämpfen. Und weil – das kann man in der Region nicht hoch genug einschätzen – Ihre Frauen mit an der vordersten Front stehen. So wenig wie sich die kurdischen Frauen ihr daraus entstandenes Selbstbewusstsein wieder nehmen lassen werden, so wenig sollten die Kurden auf ihre berechtigten Ansprüche auf Selbstbestimmung verzichten. Ob das dann am Ende als klassischer Nationalstaat oder in einer vielleicht auch größer angelegten, demokratischen Föderation sein wird, darüber sollte noch nicht spekuliert werden. Aber die Kurden in ihrer Heimatregion sollten ihr gemeinsames Ziel definieren und dieses gemeinsam vehement diplomatisch vertreten. Und ganz Nebenbei: Das liegt auch im Interesse Europas – aus mehrerlei Hinsicht.
Inwiefern?
Nun, zum einen schafft die Region in ihrem Unfrieden ständig echte, wirkliche Flüchtlinge. Die meisten von ihnen vegetieren in irgendwelchen Lagern der Region. Was aber, wenn sie sich nun – sei es, weil ihre Gastländer sie losschicken, sei es, weil jede Chance auf Heimkehr entschwunden ist – auf den Weg nach Europa machen? Darüber sollte einmal ernsthaft nachgedacht werden. Natürlich wollen sie in ihrer Heimat bleiben – wäre das nicht so, wären sie längst unterwegs. Wenn es dort aber keine Lebensbasis mehr für sie gibt – was ist ihre Alternative?
Zum anderen habe ich auch hier einen Blick auf die Türkei. Die Unterdrückung der Kurden Ostanatoliens nimmt ständig massivere Formen an. Erdogan denkt laut darüber nach, die sunnitisch-syrischen Flüchtlinge zu türkischen Staatsbürgern zu machen und in der Türkei anzusiedeln. Es gibt durchaus Szenarien, die davon ausgehen, dass diese Syrer die missliebigen Kurden in der Türkei ersetzen sollen. Dann hat Europa es plötzlich nicht nur mit den Vertriebenen aus Syrien und dem Nordirak zu tun – sondern vielleicht mit vielen Millionen Kurden allein aus der Türkei. Noch ist das bloß ein Szenario – aber es gibt Indizien, die genau darauf hindeuten. Wer gibt die Gewissheit, ob Erdogan, wenn er mit seinem aktuellen Feind Gülen-Bewegung abgerechnet hat, nicht gleich weitermarschiert gegen die Kurden? Die Stimmung in der Türkei ist längst so aufgeheizt, dass wenige Funken reichen um einen Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung zu entfachen.
Dann noch ein letztes: Wer heute mit Nationaltürken spricht, dem wird ziemlich unmissverständlich dargelegt, dass man sich von den USA – und damit von der NATO – lösen will. Ich kann nicht beurteilen, ob dieses das Spiel Erdogans ist. Ich muss aber feststellen, dass solche Ideen auch seitens der staatgelenkten türkischen Medien klammheimlich in die Köpfe der Türken ihren Weg finden. Warum schiebt Erdogan, der doch mittlerweile so gut wie alles unter seiner Kontrolle hat, da nicht einen Riegel vor? Das lässt diese Möglichkeit folglich nicht ausschließen. Sollte es dazu kommen – wer wäre dann noch ein Verbündeter der NATO in der Region? Saudi-Arabien? Der Iran? Die Kurden sind es jetzt schon. Es wäre immerhin eine Perspektive.
Das war jetzt sehr viel nahöstliche Kurdenpolitik – Außenpolitik. Lassen Sie uns auf die Situation in Deutschland zu sprechen kommen. Wie tief ist der Riss zwischen Nationaltürken und türkeistämmigen Kurden?
Dieser Riss wird leider immer tiefer. Er wird ganz gezielt von den Erdogan-Getreuen ausgehoben, indem Kurden generell zu Verrätern gestempelt, kurdische Geschäftsleute bedroht und kurdische Funktionsträger faktisch für vogelfrei erklärt werden. Ich bin zutiefst erschüttert, wenn Verbände wie die DITIB den Hass in ihre Gemeinden bringen. Statt Gräben zu überwinden, werden hier Kanäle aufgerissen, in denen bald das Blut der Landsleute fließen könnte. In türkischen Communities herrscht derzeit eine irrationale Erdogan-Euphorie, die nicht nur deutlich macht, dass die davon Infizierten mental niemals in Deutschland angekommen sind, sondern auch in Gefahr gerät, zu einem Terrorinstrument gegen alle nicht-Erdogan-treuen Nachbarn zu entarten. Ich fordere die entsprechenden Verbände auf, endlich das zu tun was unumgänglich ist, um diesen Hass, diese irrationale Hatz zu beenden! Sie stehen in der Pflicht dem deutschen Staat gegenüber – und niemandem anderen. Wenn sie das nicht verstehen wollen, dann sollten sie Deutschland verlassen. Wir sind hierher gekommen, um ein besseres Leben und die demokratische Freiheit als Geschenk zu bekommen. Geschenke tritt man nicht mit Füßen. Man ist seinem Geschenkgeber dankbar – und man verrät ihn nicht!
Verstehe ich das richtig? Sie sagen, die Kurden sind hier angekommen – die Türken nicht?
Nein – ich sprach von jenen Türken und türkischen Verbänden, die mit Herz und Kopf und ohne Verstand in der Türkei sind, obgleich sie in Deutschland leben. Ich habe viele türkischstämmige Freunde, die sind ebenso entsetzt wie ich sowohl über das, was in der Türkei gegenwärtig geschieht, wie über diese fanatische Türkei-Ausrichtung vieler Türken in Deutschland. Sie aber trauen sich kaum noch, sich zu positionieren. Selbst in ihrem Bekanntenkreis fürchten sie sich davor, bei kritischen Äußerungen in der Türkei angeschwärzt zu werden. Das sind unhaltbare Zustände – und hier ist auch der deutsche Staat gefordert, endlich aktiv zu werden. Wer in Deutschland angekommen ist, wer die Freiheit dieses Staates zu schätzen gelernt hat und sich vorbehaltlos zu ihm bekennt, der hat auch jedes Anrecht auf den Schutz durch diesen Staat. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob nun vorgeblich kurdisches oder türkisches oder auch afrikanisches oder asiatisches Blut durch seine Adern rinnt. Es kann nicht darum gehen, eine Mauer zwischen Kurden und Türken und zwischen Türken und Deutschen aufzubauen. Das tun aber derzeit die Erdogan-Anhänger – und nur die Erdogan-Anhänger. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, das nicht zuzulassen – und die Mauern dort, wo sie bereits stehen, wieder einzureißen. Wer sich dem verweigert, der steht nicht zu diesem Staat – und er sollte diesen Staat dann konsequenterweise auch verlassen. Wir, und damit meine ich Kurden, liberale Türken und auch die Deutschen, dürfen nicht zulassen, dass aus dieser Demokratie, die trotz mancher Fehler immer noch unsere Freiheit und die Freiheit unserer Kinder garantiert, eine osmanische Diktatur wird, wie sich das offensichtlich einige der Erdogan-Fanatiker erträumen.
Herr Toprak, herzlichen Dank für dieses spannende Gespräch.