Zwei Frauen sitzen sich in modernen weißen Lederbürostühlen in Corona-respektvollem Abstand gegenüber. Wir befinden uns irgendwo im Kanzleramt. Vom Zuschauer aus links vor einer Fensterfront mit Blick auf den Reichstag sitzt Kanzlerin Angela Merkel. Ihr gegenüber sitzt ins Tageslicht schauend Marietta Slomka, langjährige Moderatorin des ZDF heute journals. Zwischen den beiden an der Wand „moderne” Kunst, so, wie man sie aus unzähligen Wartezimmern deutscher Arztpraxen kennt, unter denen seit nunmehr über einem Jahr Bürger sitzen, die noch mehr auf diese Wischiwaschi-Suchbilder angewiesen sind, weil die Patienten darunter sitzend sich nicht mehr ins Gesicht schauen, die Mimik verdeckt von Masken. Anfangs noch oft bunt und handgemacht, heute einheitlich im weißen FFP2-Zustand.
„Viele Bürger fragen sich, wo stehen wir jetzt eigentlich in dieser Pandemie? Und viele hoffen natürlich, dass wir so das Schlimmste, also die tiefste Talsohle durchschritten haben …“, startet Slomka. Ob das Schlimmste noch bevor steht, möchte Slomka wissen. Und Merkel antwortet ihr: „Das hängt jetzt von uns ab. Das ist das Gute.“ Aber wer ist „uns“? Sind „wir“ uns oder meint Merkel ihren Corona-Gipfel, der auch in der Impfstoffbeschaffung so viel versäumt und falsch gemacht hat. Also wenn der Impfstoff tatsächlich helfen könnte, dann rettet er jetzt viel weniger schnell Leben – vornehmlich älteres Leben – als er hätte retten können, soviel ist klar. Es hängt aber von „uns“ ab. Also von der braven Befolgung dieses oft so willkürlichen Corona-Maßnahmen-Konzertes.
In den letzten dreieinhalb Wochen seien die Fallzahlen halbiert worden, teilt die Kanzlerin erfreut mit. Gemeint ist hier die Zahl von Infektionen gleichgesetzt mit Positiv-Tests an einer bestimmten Zahl von Deutschen, die diesen Test in einem bestimmten Zeitraum gemacht haben.
Wir seien „auf einem Ast, der absteigt, wo weniger Fälle auftreten“, so Merkel kryptisch in irgendeinem unsichtbaren Diagramm verheddert. „Wir können den Punkt – das sind die 50 Fälle pro 100.000 in sieben Tagen bald erreichen, wenn wir uns noch an die Kontaktbeschränkungen halten.“ Dann könnten die Gesundheitsämter wieder Kontakte nachverfolgen und das sei ja auch „was alle wollen.“ Ist das so?
„Jetzt haben wir die Mutation, wir wissen nicht, wie diese wirkt, deshalb müssen wir besonders aufmerksam sein. Aber es hängt jetzt von uns und klugen Öffnungsschritten ab, ob wir ohne eine groß ausgeprägte dritte Welle durch die Pandemie kommen oder ob wir zu unvorsichtig sind und dann doch vielleicht wieder steigend Fallzahlen haben, was ich vermeiden möchte.“
Das Drohszenario wurde um die Mutanten erweitert, das Ende der Maßnahmen bei 50 Fällen wurde quasi abgesagt. „Aber eigentlich ist doch die 35 die neue 50“, wagt Slomka zaghaft einzuwerfen. „Ab fünfzig, also wenn man die unterschreitet, dann muss man umfassende Schutzmaßnahmen ergreifen.“, erwidert die Kanzlerin.
Warum sagt Merkel nicht einfach, dass die 50 falsch berechnet war? Was sollen solche schlecht oder gar nicht erklärten Verschärfungen? Diese erneute Reduzierung der Zahl, genauer der Hoffnungen für die Menschen sei „für den Einzelhandel aber ein ziemlicher Schock“ gewesen, denkt Slomka laut. „Kann es sein, dass dann in zwei, drei Wochen dann doch eher 25 oder zehn sind?“ Es kommt einem beim Zuhören so vor, als zittere Marietta Slomka direkt ein bisschen bei dieser – ähm – fast mutigen und an Journalismus erinnernden Nachfrage.
Merkel entgegnet, man gehe ja schon bei der 50 eine gewagten Schritt. Aber Merkel selbst „sehe ja auch ein“, dass Kitas und Schulen zu öffnen wichtig für die Kinder sei. „Ich glaube, dass wir die 50 zum ersten März erreichen können und dann werden auch die Friseure wieder geöffnet.“ Auch diese Öffnung ist nach Merkel also noch gar nicht abgemachte Sache: Wenn die Zahlen nicht stimmen, bleibt der Haarschneider weiter aus. Basta. Aber was für eine sklavische Zahlenmystik ist das eigentlich und welche Zahl ist der Gott aller Zahlen? Die 0?
Die Öffnungen bei Erreichen der 50 sind dann aber „schon ein Mehr an Kontakten, das man beobachten muss, und deshalb haben wir uns die 35 dann genommen, für den nächsten Schritt.“ Oh je, besser kann man so eine kollektive Verhedderung im Zahlensalat und Verwirrung wohl kaum mehr nacherzählen:
Die Ikonografie der Corona-Fallzahlen übernimmt die Deutungshoheit und Merkel deutet frei nach Belieben die Zahlenmotive dieser Ikonografie neu. Und die Deutschen sollen weiter mit offenem Mund vor den Übertragungsgeräten sitzen bleiben, bis der Hausarzt irgendwann oder vielleicht doch nie mehr zum Impfen ruft.
Es braucht nach Merkel „einen Infektionszyklus, also zwei Wochen lang stabil unter 35, dann können wir den nächsten Schritt ins Auge fassen.“ Die Kanzlerin bietet den Deutschen nichts Konkretes. Immer ist die Rücknahme der heutigen Zusage morgen schon impliziert. Und wird dann noch mit kaum versteckten Drohungen garniert: Die trockene lutheranische Hoffnungsmache auf ein karges bisschen Deutschland von früher.
„Immer wenn wir stabil bei 35 bleiben – 14 Tage lang – und der vorherige Öffnungsschritt nicht zu einem Anstieg der Fallzahlen geführt hat, dann kann man den nächsten Schritt gehen.“, erklärt die Kanzlerin den Bürgern, erzählt also, das die Deutschen nichts zu erwarten hätten: Die 50 wird 35, wird irgendwas darunter und welche Geschäfte wieder öffnen dürfen, entscheidet eine Zusammenkunft in einem Corona-Gipfel am Parlament vorbei.
Das alles wirkt nur deshalb nicht noch viel bedrohlicher, weil sich da zwei Frauen unterhalten und keine Militärs in Uniform oder gar Weißkittel mit Häubchen wie aus wackeligen Filmaufnahmen Rumänien 1990, damals, als die Welt erstarrte angesichts der schaurigen Bilder aus osteuropäischen Kliniken und Verwahranstalten. Da wäre jetzt übertrieben? Es kann kaum übertrieben werden, die Mediziner in Deutschland berichten schon von zahlreicher werdenden geistigen Ausfällen bei Kindern und Jugendlichen – die Suizidzahlen für 2020 werden gnädigerweise erst im September 2021 veröffentlicht.
Slomka will noch wissen, ob Merkel es bereuen würde, die Impfstoff Beschaffung nicht zur Chefsache gemacht zu haben. Was für eine unjournalistische Steilvorlage, wo doch erst einmal geklärt werden muss, ob das Impfstoffbeschaffungsversagen nicht gerade auf dem Prinzip der Chefsache beruht hat.
„Aber ich will gar nicht drumrum reden, es gibt ’ne Enttäuschung. Und vielleicht hat diese Enttäuschung etwas damit etwas zu tun, dass ich es erstmal faszinierend fand, dass
wir überhaupt einen Impfstoff haben nach weniger als einem Jahr.“, sagt die Kanzlerin.
Und das ist dann gleich auf zweierlei Weise bemerkenswert: Zum einen, weil ja von den Bürgern nur enttäuscht sein kann, wer etwas erwartet hätte, und zum anderen hier die Kanzlerin eine kalte Faszination offenbart, die so vollkommen sinnleer im Raum steht, wo sie doch diese Faszination mit vielen anderen Staatenlenkern teilte, die aber diese ihre Faszination sofort in Impfstoff-Bestellungen umgewandelt haben.
Man hätte es versäumt, am Anfang darauf hinzuweisen, dass nicht für jeden der Impfstoff da ist. Aber auch das ist auf eine Weise scheinheilig, denn wer mehr einkauft und mehr vorhält, braucht diesen Hinweis ja nicht zu machen. Slomka wirft dementspechend auch ein, dass man in Großbritannien sogar schon mit den Ü-70 Gruppen durch wäre. Es ginge also doch anders.
Dort würden Hausärzte schon ihren Patienten hinterher telefonieren, diese sollten endlich zum Impfen kommen. Merkel weiß, dass das u.a. daran liegt, dass die Briten mehr von der Haftung übernommen hätten, „das haben wir ausdrücklich nicht gemacht.“ Aber was heißt das nun wieder? Jedenfalls ist das alles andere als eine Ermunterung für Impfskeptiker.
Schuld seien die Hersteller, die hätten bislang noch keinen Antrag gestellt, jetzt wären die ersten Antrag eingegangen. Dass das allerdings auch hätte Regierungsaufgabe sein können, hier nachzuhaken und nachzufragen, woran es noch fehlt, kommt der Kanzlerin gar nicht in den Sinn. Aber man hätte im Corona-Kabinett schon darüber gesprochen. Warum das für die Bürger alles andere als eine Beruhigung ist, ist spätestens nach diesem Interview selbsterklärend.
Slomka will wissen, warum von der Kanzlerin so wenig Selbstkritik kommt. Sie soll sagen, worüber sie sich im Nachhinein noch ärgert. Merkel betont, dass der Bundestag den Rahmen gesetzt hätte auch für die Zusammenkünfte zwischen ihr und den Ministerpräsidenten. Sie kenne auch „viele Gedanken aus den Fraktionen, weil wir ja öfter miteinander reden.“ Also jede Fraktion kann hier sicher nicht gemeint sein, aber lassen wir das mal beiseite wie die Kanzlerin.
Anders gemacht hätte Merkel den Umgang mit den Masken. Sie wäre bei der Maskenpflicht zu zögerlich gewesen. Und sie wäre im Rückblick im Herbst zu zögerlich herangegangen. Aber sie hätte schon damals kein gutes Gefühl gehabt, die Entscheidung aber mitgetragen. Angela Merkel reut also, die Corona-Maßnahmen nicht noch bedingungsloser durchgesetzt zu haben? Und dann lächeln sich die Frauen an und das zwölf Minuten dauernde Gespräch ist beendet.