Eigentlich bemüht sich Rainer Maria Woelki immer, auf der „richtigen Seite“ zu stehen. Der Kölner Kardinal ist vielen für seine stetigen Positionierungen auf Seiten des linken Zeitgeists bekannt. So erklärte er 2016, Christ sein und AfD zu wählen schließe sich aus, und warb wiederholt für die Aufnahme von Flüchtlingen: Woelki ist einer, der zweifellos viele der Gutmenschen in den Gremien der christlichen Kirchen in Deutschland gut vertritt.
Ein „Gutmensch“ unterscheidet sich von einem „guten Menschen“ vor allem durch die intrinsisch gute Motivation des Handelns, beziehungsweise den Mangel dieser. Wo ein guter Mensch aus moralischer Überzeugung handelt, handelt ein Gutmensch vor allem im Sinne der Meinung anderer über einen selbst. Er will weniger gut sein, als gut gefunden werden. Wie „gut“ ein Gutmensch tatsächlich ist, offenbart sich irgendwann an anderer Stelle. Meistens, wenn „gutes Handeln“ plötzlich den Gutmenschen selbst betrifft, ihm Opfer, Arbeit oder anderes abverlangt.
Ulrich Wastl, Partner der verantwortlichen Kanzlei, kritisiert das scharf: „Ein derartiges Verhalten haben wir noch nicht erlebt“, so der Anwalt in „Christ und Welt“. Die Vorwürfe des Kardinals, er und seine Kollegen hätten bei dem Gutachten gepfuscht, weist er zurück. Wohl eher wolle Woelki unangenehme Wahrheiten auch aus Eigeninteresse in der Schublade verschwinden lassen: „Der Reflex, die Institution schützen zu wollen, und das Bedürfnis nach Selbstschutz gehen oft Hand in Hand.“ Journalisten werfen dem Erzbistum bereits seit längerem eine „Wagenburgmentalität“ vor. Äußerungen seien nur noch in Juristendeutsch verklausuliert, heißt es – Woelki und sein Erzbistum sähen sich eher in einer Art Verteidigungskampf als in einem Aufklärungsprozess.
Anfang des Jahres wollte Woelki dann das beginnen, was er wohl als „Transparenzoffensive“ verstanden sehen wollte. In einem Pressegespräch sollten Reporter eigentlich die Möglichkeit erhalten, ein teilweise geschwärztes Exemplar des fraglichen Rechtsgutachtens zu lesen. Professor Jahn, der für Woelki die Fundamentalkritik am Münchner Gutachtenschrieb, würde ausführlich erläutern, weshalb er dieses für nicht veröffentlichbar halte – und die Journalisten könnten einen Blick in das bislang verschlossene Gutachten werfen. An sich eigentlich kein schlechtes Angebot, zumindest besser als nichts.
Doch als sich die Journalisten am 5. Januar in den Räumlichkeiten des Erzbistums einfanden, erwarteten sie mehrere Überraschungen. Bereits zu Beginn wird ein „Fazit“ verteilt, und für die Lektüre des 500 Seiten schweren Gutachtens sind nur 20 Minuten vorgesehen, was wohl selbst für den engagiertesten Leser eine Herausforderung darstellen sollte. Voraussetzung für das ganze soll auch die Unterschrift unter eine Verschwiegenheitserklärung sein, in der sich die Presseleute verpflichten sollten, die im Gutachten „geschilderten Tathergänge sexuellen Missbrauchs“ oder „benannte Täter“ nicht preiszugeben. Ebenso wenig dürfe ein Journalist veröffentlichen, was genau an Kritischem im Gutachten über „benannte Verantwortungsträger im Umgang mit Verdachtsfällen sexuellen Missbrauchs aus dem Erzbistum Köln“ zu lesen sei. Für die Veröffentlichung freigegeben sei eigentlich nur die rechtliche Kritik Professor Jahns am Münchner Gutachten.
Nur zugeben, was ohnehin schon bekannt ist
Daraufhin brachen alle anwesenden Journalisten den Termin ab. Joachim Frank, Chefkorrespondent des Kölner Stadt-Anzeigers, war einer von ihnen. „Hätten wir uns darauf eingelassen, hätten wir anschließend nur die längst bekannten Thesen von Professor Jahn ausbreiten können,“ erklärt er. „eine derartig kanalisierte Form der Wahrheitsfindung wollte niemand von uns mitmachen.“ Frank hat die Berichterstattung über das Kölner Erzbistum schon lange kritisch gestaltet. Die Kommunikation Woelkis folge oft der Formel, nur zuzugeben, was schon bekannt ist, hat Frank bei seinen Recherchen gelernt.
Er war es auch, der Kardinal Woelki selbst in den Fokus rückte: Wie Frank Ende Dezember aufdeckte, soll der Missbrauchsvorwürfe gegen einen befreundeten Pfarrer nicht nach Rom gemeldet haben. Dem 2017 gestorbenen Pfarrer Johannes O. wird vorgeworfen, Ende der 70er Jahre einen Jungen im Kindergartenalter missbraucht zu haben. Nachdem Woelki 2014 Erzbischof von Köln wurde, ließ er die Angelegenheit fallen. Seine Begründung dafür ist, dass O. aufgrund einer fortgeschrittenen Demenz „nicht vernehmungsfähig“ gewesen sei. Diesen Vorgang bewerten viele Kirchenrechtler kritisch – Woelki habe Verpflichtungen nicht erfüllt, heißt es.
Doch der Kardinal besteht darauf, nichts falsch gemacht zu haben. „Ich habe mein Gewissen geprüft, und ich bin persönlich der Überzeugung, dass ich mich korrekt verhalten habe“, erklärt er. Bei dem Rechtsgutachten solle es auch gar nicht um ihn gehen: „Meine Person interessiert da nicht.“
Woelki hat den Kölner Strafrechtler Björn Gercke damit beauftragt, ein neues Gutachten zu erarbeiten. Dieses soll am 18. März vorgestellt werden. Bis dahin müsse man sich noch gedulden, sagte Woelki. „Wir klären auf, ich stehe zu meinem Versprechen“. Doch mittlerweile erhöht sich der Druck auf den Kardinal gewaltig. Georg Bätzing, der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, kritisierte Woelkis Handhabung des Prozesses: „Die (…) Krise, die entstanden ist, weil das Gutachten nicht jetzt öffentlich ist, die ist nach meiner Ansicht nicht gut gemanagt worden“, sagte der Limburger Bischof am Donnerstag in einer Online-Pressekonferenz. Das Präsidium des „Synodalen Weges“, einer Reformkonferenz innerhalb der katholischen Kirche, erklärte: „Es sind erhebliche Irritationen entstanden und es ist ein Verlust an Vertrauen eingetreten, der nur schwer wieder behoben werden kann.“
Auch ein Rücktritt sei nicht außer Frage. Die Kölner Katholikenkonferenz fordert sogar ein Eingreifen Roms: „Ich sehe keinerlei Zeichen und keinerlei Impulse, wie die Bistumsleitung aus dieser massiven Krise herauskommen will, und ich weiß auch nicht, ob die überhaupt registrieren, wie dramatisch die Lage ist“, sagte der Vorsitzende Gregor Stiels. „Damit man diese Schockstarre durchbrechen kann, braucht es unbedingt Hilfe von außen (…) jemand, der aus Rom kommt und erstmal einfach sieht und hört, was hier im Erzbistum los ist. Ich weiß gar nicht, ob bis dahin überhaupt gedrungen ist, wie verfahren die Situation hier ist.“
Selbst in seinem eigenen Bistum rebelliert man inzwischen: Robert Kleine, Kölner Stadtdechant und altgedienter Kirchenoffizieller, hat die Geduld mit seinem Erzbischof und der Bistumsleitung verloren. Im Kölner Stadt-Anzeiger und im Express war er der erste führende Geistliche des Bistums, der seinen Missmut in Worte fasste und das ausdrückte, was viele wohl denken: Kleine forderte die Bistumsspitze einschließlich des Kardinals auf, sich zu Fehlern zu bekennen und Konsequenzen zu ziehen, und zwar schon vor dem 18. März, wenn das neue Missbrauchsgutachten veröffentlicht wird. Auch die Gläubigen scheinen ihrem Kardinal sein Verhalten angemessen zu quittieren: Beim Amtsgericht Köln sind bis Ende April die Termine für Kirchenaustritte ausgebucht.