Tichys Einblick
Zehn Millionen Impfungen in Großbritannien:

Britische Konservative wollen eine schnelle Aufhebung des Lockdowns

In Großbritannien ist zwei Monate nach dem Impfbeginn rund ein Sechstel der Bevölkerung geimpft. Bald könnte das Land sich wieder öffnen. Der Brexit hat's möglich gemacht.

Premierminister Boris Johnson

IMAGO / Parsons Media

Durch eine beispiellose nationale Anstrengung hat die Regierung in London geschafft, was ihr in Europa sonst keiner nachmacht. Zwei Monate nach dem Impfbeginn ist bereits ein Sechstel der Bevölkerung gegen Covid-19 geimpft. Bald kratzt man an der Herdenimmunität und wird die Früchte ernten können.

In Großbritannien sind inzwischen zehn Millionen Menschen gegen das neue Coronavirus geimpft. Das sind knapp 16 Prozent der Bevölkerung. Inzwischen werden täglich mehr als 300.000 Personen geimpft. An Spitzentagen schaffte man an die 600.000. Zum Vergleich: In Deutschland kratzt man derzeit noch von unten an der Marke von 120.000 Impfungen pro Tag, wobei etwa die Hälfte davon auf Zweitimpfungen entfällt, wie sie Biontech-Pfizer innerhalb von einem Monat empfiehlt. Laut RKI sind in Deutschland noch keine drei Millionen Menschen geimpft, und das bei etwa 20 Millionen mehr Einwohnern als im Vereinigten Königreich.

In der Impfquote schlagen uns die Briten also um Längen. Der beschränkende Faktor liegt in der Versorgung mit Impfstoff, den die britische Regierung sich frühzeitig und mit großem Einsatz gesichert hat. Nun mag das hiesige Impfchaos den Skeptikern recht sein, es könnte aber einschneidende Unterschiede für das Leben und Wirtschaften in beiden Ländern mit sich führen.

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Boris Johnson feierte diesen »Meilenstein« in seiner Pressekonferenz am Mittwochabend: Fast 90 Prozent aller Briten über 75 Jahren seien bereits geimpft, ebenso sämtliche Bewohner von Pflegeheimen. Johnson verwies zudem auf eine neue Studie, nach der die Immunität schon drei Wochen nach der ersten Impfung einsetzt und mindestens drei Monate anhält. Daneben soll auch die Weitergabe des Virus durch die Impfung wirksam eingedämmt werden. Mit weiteren Ankündigungen hielt sich Johnson zunächst zurück. Am 22. Februar will er einen Fahrplan für den »Weg aus dem Lockdown« vorstellen.
Wann singt die beleibte Dame?

In London hat damit die Öffnungsdebatte begonnen, auf die wir wohl noch etwas warten müssen. Machen die Briten in diesem Tempo weiter, dann könnte das Land schon im März die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen immunisiert haben. Auch das Beratergremium SAGE geht dann von einer »deutlichen Rückkehr zur Normalität« aus. Wer genau zu diesen Gruppen gehört, darüber ist inzwischen eine kleine Diskussion entbrannt: alle über 65, 55 oder gar 50 Jahren? Die Regierungstauben scheinen sich auf den letzten Wert festlegen zu wollen. Aber auch dieses Ziel scheint bis zum März erreichbar. Dann könnte man sowohl die Schulen als auch die Wirtschaft wieder umfassend öffnen.

Doch schon jetzt sprechen viele von dem Moment, wenn die dicke Frau singen wird. »It ain’t over till the fat lady sings«, heißt diese Redewendung im Original. Wagner-Kennern ist die erlösende Wirkung bekannt, die eintritt, wenn die Sängerin der Brünnhilde – traditionell ein größeres Kaliber – endlich vor den Scheiterhaufen tritt, ihren Schlussmonolog singt und viereinhalb Stunden Götterdämmerung zu Ende gehen lässt.

Schatzkanzler Rishi Sunak wurde mit der Aussage zitiert, dass dieser Moment bald kommen werde. Er will die Wirtschaft im Königreich so bald wie möglich wieder öffnen, und das für immer: Der jetzt geltende Lockdown müsse auch der letzte gewesen sein. Was Sunak befürchtet: dass wissenschaftliche Berater und Kabinettstauben mit jedem errungenen Erfolg auch die Zielmarken höher legen. So scheint man auch auf der Insel den Blick von Krankenhausbetten und Hospitalisierungen abzuwenden und vermehrt auf die berühmten »Fallzahlen« zu schauen. Das Ergebnis wäre die deutsche Merkel-Müller-Söder-Malaise, bei der jede noch so einschneidende Beschränkung mit dem Zahlenkonstrukt des Robert-Koch-Instituts begründet werden kann.

Zwar ließ Sunak bald ein Dementi folgen, aber einige Tory-Abgeordnete begrüßten seine Worte eindeutig. Hinzu kommt, dass man auch die »zweite Welle« für weitgehend überstanden hält. Die Höchstwerte, was Krankenhauseinweisungen und Todesfälle, aber auch Fallzahlen angeht, scheinen in der Vergangenheit zu liegen. Noch ist zwar die Bettenauslastung hoch, aber zugleich gibt es überall im Land noch Reserven. Die Schlussfolgerung der Hinterbänkler lautet: Der britische Lockdown soll früher enden, als geplant. Natürlich werden Hygiene-Maßnahmen und Distanzregeln auch weiterhin nötig sein. Aber Kindergärten, Schulen, Geschäfte, Restaurants, Cafés, Theater könnten endlich wieder öffnen.

London hat genug Impfstoff, weil es ihn selbst produziert

Eine wesentliche Voraussetzung für den britischen Impf-Erfolg war die nationale Strategie, mit der die Regierung Johnson an die Aufgabe heranging. Günstig wirkte sich aus, dass eine Oxforder Forschergruppe schon seit längerem an einem Impfstoff gegen ein anderes Coronavirus, den MERS-Erreger, arbeitete. Vor genau einem Jahr schwenkten die Wissenschaftler auf das neue Virus um. Dass die Suche nach einem Impfstoff Früchte tragen würde, war dabei keineswegs von Anfang an klar. Die Entwicklung von wirksamen Medikamenten schien ebensogute Chancen zu haben. Man setzte also auf beides.

Ein besonderes Augenmerk richtete man auf die Produktion und Lieferbedingungen der Präparate. Eine Partnerschaft mit dem US-Pharmakonzern Merck wurde vermieden, weil der Vertrag die Belieferung Großbritanniens nicht vollständig sicherstellte. Doch auch bei den Verhandlungen mit AstraZeneca musste Johnson am Ende noch etwas mehr drauflegen. Durch Regierungszuschüsse stellte man die heimische Produktion und damit die prioritäre Belieferung des Königreichs sicher, die hierzulande für so viel Aufregung gesorgt hat. Aber die britische Regierung hat für dieses Vorrecht schlichtweg bezahlt, indem sie die Produktion selbst finanzierte.  Das Projekt gilt inzwischen als Blaupause für die künftige Industriepolitik der Regierung Johnson.

Als nächstes schuf man den Posten einer Generalbevollmächtigten für die Regierung in Fragen des AstraZeneca-Vertrags. Die Wahl der Geschäftsfrau Kate Bingham gilt – trotz ihrer persönlichen Verbindungen zu führenden Tories – als grundlegend für den britischen Impferfolg. Sie wählte sieben Impfstoffe aus über 100 Kandidaten aus und bestellte bei allen sieben Herstellern. Insgesamt wurden über 400 Millionen Impfdosen bestellt, also sicher dreimal so viele, wie man für das 67-Millionen-Land braucht, wenn man pro Person zwei Spritzen rechnet. Aber es galt offenbar die Devise, dass man den Überschuss später immer noch an Entwicklungsländer spenden könnte.

Wissenslücken bei Zeiten geschlossen: Keine Hospitalisierungen mehr nach der Impfung

Zuletzt hagelte es bekanntlich Kritik von den europäischen Nachbarn. Der von Forschern der Universität Oxford entwickelte Impfstoff sei nicht sicher für Menschen über 55. Frankreichs Präsident Macron beeilte sich, die britische Impfstrategie insgesamt zu desavouieren: Weil die Konkurrenz von Biontech-Pfizer zwei Impfdosen binnen drei Wochen empfiehlt, nannte Macron den britischen Weg »unseriös«. Denn London hat, um seine Impfkampagne zu beschleunigen, auf den zweiten Impftermin zunächst verzichtet. Frankreich arbeitet derweil noch an seinem SanofiImpfstoff, den die EU-Länder trotzdem schon einmal einkaufen mussten. Könnte das der Grund der Attacken sein? Deutschland, Polen und sogar Schweden folgten Macron. In allen drei Ländern soll es den britisch-schwedischen Impfstoff von AstraZeneca nur für die Unter-65-Jährigen geben.

Dabei ist die ganze Aufregung im Grunde einer Wissenslücke geschuldet, die von zwei neueren Studien geschlossen werden kann. So zeigt eine Antikörper-Studie der Universitäten Oxford und Manchester, dass etwa ein Viertel der Engländer über 80 Jahren inzwischen Antikörper gegen Covid-19 zu besitzen scheint, während jüngere Alterskohorten zum Teil sehr viel schlechter abschneiden. Die 70- bis 79-jährigen Engländer liegen nur bei acht Prozent. Der Unterschied wird durch den Vorrang der Älteren beim Impfen erklärt.

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Die Universität Oxford hat außerdem die von Johnson zitierte Studie erstellt, wonach die Wirksamkeit des AstraZeneca-Impfstoffs schon nach einer einfachen Dosis bei 76 Prozent liegen soll. Drei Wochen nach der Impfung gab es demnach keine Hospitalisierungen wegen Covid-19 mehr. Auch die Virus-Übertragung wurde deutlich eingedämmt. Zugrunde liegt dieser Oxford-Studie eine Stichprobe von über 17.000 Teilnehmern zugrunde, davon knapp 9.000 Briten, 6.700 Brasilianer und an die 1.500 Südafrikaner. Die Datensammlung endete am 7. Dezember, weshalb die neuen Virusvarianten, die inzwischen aufgetreten sind, noch keine Rolle gespielt haben dürften.
Die AstraZeneca-Impfung hemmt Übertragungen

Die Studie kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass eine Verzögerung der zweiten Gabe um drei Monate im Falle der AstraZeneca-Impfung sogar für einen besseren Impfschutz sorgt, der dann bei durchschnittlich 82 Prozent liegt. Lagen weniger als sechs Wochen zwischen beiden Spritzen, sank die Effizienz hingegen auf 55 Prozent ab. Abwarten scheint also die richtige Wahl – zumindest für den britisch-schwedischen Impfstoff. Ohnehin waren die Briten vergleichsweise schnell: Während man bei Pfizer und Biontech noch anhand von Tierversuchen rätselt, ob auch die Übertragung durch den eigenen Impfstoff verhindert wird, haben die Briten schon während der letzten Testphase im vergangenen Herbst damit begonnen, Wissenslücken zu schließen.

Für Großbritannien ergibt sich damit eine günstige Konsequenz aus einer hoch aktiven Wissenschafts- und Industriepolitik: Das Königreich könnte die Covid-Folgenkrise trotz allen Verlusten und Niederlagen schneller überwinden als seine kontinentalen Wettbewerber und damit als erstes Land der westlichen Hemisphäre erneut den »Ruf der Freiheit« (frei nach Gesundheitsminister Matt Hancock)  erschallen lassen. Wenn die neuentwickelten Impfstoffe tatsächlich nicht nur die Vermehrung des Virus im Körper verhindern, sondern auch seine (asymptomatische) Übertragung vermeiden, dann sind sie das Billett für die Wiedereröffnung nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Kultur, des Lebens in unseren Ländern. Man kann nur hoffen, dass das mehr ist als nur Optimismus.

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