In politisch größter Not erinnert sich Italiens Staatspräsident Sergio Matarella an einen der wirkmächtigsten Italiener, der sein Land im vergangenen Jahrzehnt vor dem Staatsbankrott bewahrt hat. Mario Draghi, ohne dessen geldpolitische Spendierhosen aus Nullzinspolitik und Staatsanleihen-Käufen, die er in seiner achtjährigen Amtszeit als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) durchgedrückt hatte, wäre Italien nicht nur pleite, sondern die Turbulenzen hätten womöglich auch die Euro-Währungsunion gesprengt. Das passierte bisher zwar nicht. Dafür ist Europa inzwischen zu einer Schuldengemeinschaft geworden, die sich anfangs nur in den Bilanzen der Zentralbank niederschlug, in der Corona-Pandemie aber letztlich auch in einer gemeinsamen europäischen Kreditaufnahme mündete.
Aus der nationalen Haftung der Euro-Mitgliedstaaten für eine unseriöse Finanz- und Haushaltspolitik, die einmal hinter der „No-Bail-Out-Klausel“ stand, ist längst eine Kollektivhaftung geworden, die solideren Staaten von den Schuldensündern praktisch aufgezwungen wurde. Das Nötigungspotential der exzessiven Schuldner war politisch wirkungsvoller als die immerwährenden Soliditätsappelle, die von den solideren Nordeuropäern vergeblich an den Club Méd gerichtet wurden. Schutznormen waren das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen. Da sich Deutschland in den vergangenen Jahren zunehmend aus der Allianz der solideren Nordeuropäer verabschiedete und nach dem Ausstieg der Briten auch noch die faktische Vetomacht Deutschlands in der EU verloren gegangen ist, gibt es fortan kein Halten mehr.
„Apostel der Eliten“ erhält Regierungsauftrag
Jetzt also greift Italien mitten in einer veritablen Regierungskrise auf Mario Draghi zurück, dem es gelingen soll, eine Art Expertenregierung zu schmieden, die bis zum Ende der regulären Legislaturperiode 2023 das Land führt. Denn nachdem der populärste italienische Politiker, Ministerpräsident Guiseppe Conte, vom unpopulärsten Mario Renzi, seinem Vor-Vorgänger, abgeschossen wurde, weil sich dessen Kleinstpartei einer Fortsetzung der regierenden Koalition um jeden Preis verweigert hat, fürchtet man in Italien nichts mehr als Neuwahlen. Denn erstens lähmte ein Wahlkampf das politische Handeln mitten in der Corona-Pandemie. Zweitens erwarten viele Beobachter bei aktuellen Neuwahlen einen Sieg der Rechtspopulisten um Matteo Salvini (Lega) und Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia). Und zum Dritten muss Italien bis zum April ein detailliertes Programm nach Brüssel schicken, mit dem die solidarische Corona-Gabe von 209 Milliarden Euro, die allein Italien aus dem Corona-Wiederaufbaupaket der EU zur Verfügung stehen, mit konkreten Projekten unterlegt werden soll.
Dass der Staatspräsident mit Mario Draghi einen Mann mit der Regierungsbildung beauftragt, der in Italien von einflussreichen Politikern der stärksten Parlamentsfraktion (Cinque Stelle) bereits als „Apostel der Eliten“ verdammt wird und dessen Regierungsauftrag bei der Lega und den Fratelli d’Italia den lautstarken Ruf nach sofortigen Neuwahlen auslöste, belegt, dass innenpolitische Befindlichkeiten weniger stark gewichtet werden als das Erdbeben, das Neuwahlen in Italien in dieser Zeit für die EU, den Euro und die EZB bedeuteten. Und für Brüssel und die Mehrzahl der EU-Hauptstädte ist der gut verdrahtete und als Euro-Retter glorifizierte Draghi sicher eine gute Wahl.
Wie Italiens Bevölkerung auf die Unfähigkeit der amtierenden Politiker reagiert, ihre Hahnenkämpfe (Renzi gegen Conte) ausgerechnet in der Pandemie auszutragen und zu keinem Kompromiss fähig zu sein, wird sich zeigen. Die medial vermittelte Stimmungslage scheint eindeutig: Empörung über die etablierte Politik. Ob die politische Rechte tatsächlich vom verbreiteten Frust im Land profitiert, wird sich allerdings kurzfristig erst zeigen, falls Draghi mit seinem heute erteilten Regierungsauftrag scheitert und es doch noch zu Neuwahlen kommt.