Angenommen, es gäbe eine Brille, mit der Sie die Welt so sehen könnten, wie sie wirklich ist. Die Sie in die Lage versetzen würde, hinter alle Fassaden zu blicken. Eine Brille der Klarsicht. Würden Sie sie aufziehen, auch, wenn Ihr Leben danach nie wieder das gleiche sein kann?
Der Doppelagent Cypher in Matrix speiste mit einem der Agenten der Matrix zu Abend und verhandelte seine Wiedereingliederung in die Traumwelt, die sich nur im Gehirn abspielt. In Wirklichkeit liegen die Menschen in der „Matrix“ in ferner Zukunft in mit Flüssigkeit gefüllten Tanks, angeschlossen an Kabel und Schläuche und fristen ein Dasein ähnlich eines Wachkomas, das Bewusstsein in ein gigantisches Programm geladen.
Cypher sagt: „Nach all den Jahren kann ich nur eines sagen: Unwissenheit ist ein Segen.“
Folglich sollte man sich genau überlegen, ob man die Pille schluckt, die einen tiefer in den Kaninchenbau hineinführen wird – oder ob man die Brille aufsetzt, die den Schleier von der Welt zieht und den Blick auf die nackte Realität freilegt.
Vom Meister des Trashs, John Carpenter, stammt der Film „Sie leben“ aus dem Jahr 1988. Der Film hat eine Altersfreigabe ab 18, mittlerweile ab 16. Ich weiß noch, dass er einmal ganz spät abends im Fernsehen kam und dass ich definitiv noch nicht 16 war, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Tatsächlich entbehrt der Film nicht einer gewissen Trashigkeit, aber er verfügt über einige so beeindruckende Elemente, dass diese einen ein Leben lang nicht loslassen werden.
Der Protagonist John Nada ist ein Wanderarbeiter, den sein Weg als Tagelöhner eines Tages nach Los Angeles führt. Der Kontrast zwischen den Hochhäusern und Bürotürmen hin zu von Obdachlosen in Barackensiedlungen und Zeltstädten besetzten Freiflächen unter Brücken am Stadtrand ist extrem. John Nada, ein Baum von einem Mann, glaubt im Gegensatz zu einem von Streik zermürbten Kollegen, der bei nächster Gelegenheit gewaltsam gegen die „Kapitalisten“ vorgehen möchte, an den amerikanischen Traum: Hart arbeiten, Chancen ergreifen und alles ist möglich.
Zum Abend hin nimmt ihn sein Kollege mit in eine heruntergekommen Gegend, wo kostenloses Essen ausgegeben wird und wo man einen halbwegs sicheren Platz zum Übernachten hat. Auffallend dort ist, dass Menschen dort wie überall auch wie gebannt vor den Fernsehern hängen und das Werbefernsehen konsumieren. Unterbrochen werden die Sendungen von einer Art Piratensender, der über fremde Mächte berichtet, die die Menschheit unterwandert haben und diese für ihre eigene Zwecke manipulieren und ausnutzen. Vor einem flackernden, unscharfen Bild wird zum Widerstand aufgerufen.
Noch in der gleichen Nacht wird das Gebäude von der Polizei gestürmt und geräumt, der Pfarrer, der sich um die Einrichtung gekümmert hat, wird erschlagen. Erschüttert durchforstet Nada das verwüstete Gebäude und findet in einem Karton schwarze Sonnenbrillen, von denen er eine an sich nimmt.
Als er diese tags darauf aufsetzt, sieht er die Welt nicht mehr in bunten Farben und Bildern, sondern nur noch in schwarz-weiß. Das alleine wäre nicht groß verwunderlich. Schockierend entdeckt er durch den Blick der Brille, dass Botschaften hinter allen Werbeplakaten und gedruckten Schildern oder Zeitungen und Zeitschriften stecken. Sogar die Dollar-Noten sind mit einer Botschaft versehen.
Werbeplakate und Zeitschriften beinhalten nur noch Befehle wie „Gehorche!“, „Konsumiere!“, „Schlafe weiter!“ oder „Sieh fern!“, in einer Zeitschrift sind die Worte „Stelle keine Autoritäten in Frage!“ zu lesen. Neben diesen unterschwelligen Botschaften kommt hinzu, dass viele Personen nicht das sind, was sie ohne Brille vorzugeben scheinen.
Als John Nada die Welt hinter der Brille erblickt, bricht die alte Welt davor in sich zusammen. Es gibt für ihn kein zurück mehr. Zu tief ist er in den Kaninchenbau gestoßen worden. Dadurch, dass seine „seherischen“ Fähigkeiten den „anderen“ nicht verborgen bleiben, stolpert er Schritt für Schritt aus seinem Traum des American Way of Life hinein in einen Kampf um sein Überleben.
Besonders schockierend für John Nada ist dabei die Tatsache, dass einige Menschen nicht nur von den „anderen“ wissen, sondern diese aktiv und willentlich bei der Versklavung der Menschheit unterstützen.
Mich hat an der Figur des John Nada immer seine Einstellung beeindruckt, dass man es mit seiner eigenen Hände harter Arbeit zu etwas bringen kann. Er beteiligt sich nie an Streiks oder an der Beschimpfung von „Kapitalisten“. Obwohl er ein wirklich einfacher Kerl ist, weitestgehend ungebildet, beobachtet er seine Umwelt sehr aufmerksam und bildet sich seine Meinung danach selbst. Obwohl er Tagelöhner ist, ist er kein Mitläufer und niemand, der tumb irgendwelchen Anweisungen folgt, was er zu denken und zu tun und zu lassen hat. Wer den Sonntagshelden regelmäßig liest, weiss, dass Menschen mit Vernunft, die sie der Reihe nach gebrauchen, mir eher liegen, als die Hochintelligenten mit Tunnelblick. Auch, wenn es sich dabei stets um fiktive Personen handelt.
All das macht John Nada zu einem der Helden dieser Reihe. Nachdem er durch die Brille gesehen hat, gibt es keinen Weg zurück. Ob er sie aufgezogen hätte, wenn er geahnt hätte, was ihn erwartet? Früher war ich mir da nicht so sicher. Heute beantworte ich diese Frage klar mit: Ja, das hätte er.