Heute eine kleine Erzählung. Franz Kafka könnte sie geschrieben haben. Hat er aber nicht. Sie ist von heute. Und ich habe sie sogar selbst erlebt. Sie könnte mit den selben Worten beginnen wie Kafkas bekannte Erzählung Der Landarzt.
I.
Der Bahnübergang
Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor; ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe; starkes Schneegestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm; einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere Landstraßen taugt.
Aber nun stehe ich vor einem unbeschrankten Bahnübergang. Die Ampel zeigt rot. Nach kurzer Zeit fährt ein Zug vorbei. Aber die Ampel bleibt rot. Ich warte. Geduldig warte ich. Kann das denn sein? Plötzlich nähert sich doch ein ein zweiter Zug. Gut, denke ich, wird wohl nötig gewesen sein. Ich warte weiter. Diesmal aber kommt kein Zug mehr. Warten und Warten und Warten. Hat der Ampelwärter diese Ampel vergessen? Die Ampel zeigt aber nun einmal rot. Rot, rot und nochmal rot. Also warte ich, folgsam wie ich bin und auch in Sorge. Es könnte ja sein, dass doch noch ein Zug kommt, gerade in dem Moment, in dem ich die Schienen vorschriftswidrig überquere, und womöglich, weiß der Teufel, im blödesten Moment die Batterie versagt (selbstverständlich bin ich in einem E-Mobil unterwegs). Also warte ich weiter und warte und warte und warte. Es kommt kein Zug. Mit der Ampel kann etwas nicht stimmen. Aber ich warte. Drei oder vier Züge hätten in der Zeit, die ich nun schon wieder und noch immer warte, vorbei fahren müssen. Warten, warten, warten. Durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Warten warten warten. (Eigentlich ein Satz von Rilke – ich habe ihn mir nur ausgeliehen und leicht modernisiert.) Warum wage ich es nicht, die Ampel zu ignorieren? Weil ich es noch nie getan habe. Mir genügt das als Grund. Es wäre etwas ganz Neues, etwas, das mich überfordert. Ich überlege, was zu tun ist. Das Überlegen ist noch anstrengender als das Warten. Also warte ich lieber. Während ich warte, stehe ich nicht. Ich sitze natürlich in meinem Wagen. Sehr bequem ist es nicht, aber immer noch besser als draußen herumstehen. Ich sitze und sitze. Ich werde hungrig, müde, halte es kaum noch aus, aber ich sitze. Weil es sich so gehört. Ich könnte mich aufregen. Aber das würde nichts nützen. Steht die Ampel nicht auf Rot! Weil ich mich langweile, fange ich an zu googeln. Immer noch besser, als zehn Level Candy Crush zu spielen. Dabei stoße ich überraschend auf eine Information. Der Zugverkehr auf diesen Schienen ist eingestellt worden. Man hat es mir nur nicht mitgeteilt und die Ampel blieb rot. Unwissend glaubte ich der Ampel mehr als meinem Gefühl. Ich verlor inzwischen auch mein Ziel aus den Augen, ja vergaß den Grund, dessentwegen ich überhaupt unterwegs bin. Ob der Schwerkranke, nur zehn Meilen entfernt, überhaupt noch lebt? Ich stehe vor der roten Ampel nur noch der roten Ampel wegen herum. Sie ist der ganze Sinn, weshalb ich noch hier bin.
Doch allmählich lerne ich dazu. Irgendwann beschließe ich sogar, nicht länger warten zu wollen. Aber ich überquere nicht das tote Gleis. Ich kehre lieber um. Vorwärts zurück. Sicher ist sicher.
II.
Das Gewinnspiel
Weil wir gerade bei Kafka sind, noch eine Zugabe. Die Geschichte könnte auch so beginnen wie der berühmte Roman Der Prozess: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet …“
Dies ist unser Gewinnspiel zum Wochenende. Bitte setzen Sie die Geschichte aktuell fort und schicken sie an kontakt@tichyseinblick.de. Unter den Einsendungen verlost Tichys Einblick ein Buch seines Kolumnisten Wolfgang Herles: Die neurotische Nation. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Das wäre ja noch schöner!