Hier kommt ein Zuruf aus Israel von einem, der in München, Deutschland aufgewachsen ist und jetzt 22 Jahre in Herzliya im Großraum Tel Aviv lebt. In einer Gegend, die von deutschstämmigen Juden vor 112 Jahren gegründet wurde. Sie haben damals im Sand ihre „claims“ abgesteckt und begannen, bewundert von Einwanderern aus über 100 Ländern das heutige Wirtschafts- und Innovationszentrum Israels und des Nahen Ostens aufzubauen. Das alles war einmal.
Die „Jeckes“, die so genannt werden, weil sie beim Arbeiten trotz sengender Hitze ihre Sakkos aus alter Gewohnheit und Stolz nicht ablegten, verstehen heute die Welt nicht mehr. Deutschland baut Impfzentren ohne Impfstoff und in Israel läuft das Impfen gegen eine Pandemie wie das „Bretzlbacken“ (O-Ton Süd für störungsfreie Abläufe). Ende dieser Woche werden 4,5 Millionen der 9,2 Millionen Bürger des Landes geimpft sein. Hallelujah! Und wie schaut es in „meinem“ Deutschland, „meinem“ Bayern aus? Ich schlage zum wiederholten Mal die Hände über dem Kopf zusammen.
Am Abend schaute ich ARD, ZDF und RTL-Nachrichten, die die Impfzahlen Deutschlands und Israels verglichen, und stellte mir die Frage: Hätten die Juden aus Deutschland vor 112 Jahren ihre organisatorischen Fähigkeiten von Angela Merkel, Jens Spahn, Helge Braun und Peter Altmaier gelernt, Tel Aviv wäre heute noch eine malariaverseuchte Wüste. Aber was ist heute anders als damals?
Freunde aus München und Stuttgart berichten von neuen, blitzsauberen Impfzentren. Sie haben nur ein kleines Problemchen: Es gibt keinen Impfstoff. Stattdessen gibt es jede Menge Diskussionsstoff und Diskutanten mit allen möglichen Titeln, die für alles irgendeine Erklärung finden – seit Wochen. Aber keiner beantwortet die naheliegende Frage, wieso ein in Deutschland entwickelter Impfstoff in den USA, England, Kanada und Israel ausreichend zur Verfügung steht, jedoch im Produktionsland Mangelware ist.
Israels Benjamin Netanyahu ist nicht Jedermanns Darling, das will er auch nicht sein. Seit Wochen wird vor seinem Amtssitz in Jerusalem demonstriert und Gerichte beschäftigen sich mit seinem Führungsstil. Aber er ist, was man im Hebräischen einen „Macher“ nennt. Als 2010 riesige Waldbrände den Norden des Landes verwüsteten, besorgte er innerhalb kürzester Zeit Löschflugzeuge. Die Terrorwelle 2002 – 2004 mit hunderten Opfern jährlich hat er 2020 auf 14 reduziert. Und in der Pandemie hat er nicht ideologisch verbrämte Grundsätze der Staatskunst langatmig diskutiert, sondern mit den „Machern“ bei Biontech/Pfizer und Moderna persönlich telefoniert und die Kreditkarte sprechen lassen. Wen interessiert es in Israel, wieviel er pro Dose bezahlt, wenn es täglich um Menschenleben im eigenen Land geht? Um Mütter und Väter, Großeltern und auch Kinder.
Yuval Noah Harari, Israels Bestseller-Autor, schreibt, dass mächtige Weltreiche wie die Pharaonen, die Perser, die Griechen und das alte Rom untergegangen sind, weil ihre Gesellschaft übersättigt war. Reichtum schwächt, wenn man die Ursachen des eigenen Erfolgs vergisst, verdrängt oder bewusst zerstört. In Deutschland herrscht eine Mischung all dieser Untugenden. Und die Untugenden haben ein organisiertes Publikum. Offensichtlich besser organisiert als die Impfstoff-Beschaffung. All jene, die es besser wissen und auch formulieren können, haben kein Mikrophon mehr. Weder im Bundestag noch an den Universitäten, noch in den Medien. Mir fällt mein Nachbar in München ein, der ein Hildegard-Knef-Bewunderer war. In traurigen Phasen war sein Lieblingslied zu hören: „Von nun an ging’s bergab“.