In der Diskussion um illegale Zuwanderung wird meist betont, dass Deutschland ein Rechtsstaat sei. Dass aber gerade dieser Rechtsstaat in seiner Komplexität und über die Instanzen hinweg eine vermeintliche Alternativlosigkeit der Hinnahme von Massenzuwanderung produzieren kann, ist spätestens seit 2015 offensichtlich. Der Staat ist nur so handlungsfähig, wie Justiz und Exekutive bereit sind, geltendes Recht auch durchzusetzen. Noch Mitte 2018 sprach der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt u.a. mit Blick auf die Heerscharen von Asyl-Anwälten von einer „Anti-Abschiebe-Industrie“.
Anwälte von Asylbewerbern aus Eritrea und Syrien, die nach Dublin-Abkommen nach Griechenland zurückgeschickt werden sollten um eine Sekundärmigration zu vermeiden, hatten jetzt im Namen ihrer Klienten das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster angerufen. Den Betroffenen war also bereits ein Schutzstatus in einem EU-Staat verliehen worden, sie wollten aber – vermutlich nicht zuletzt wegen der vergleichsweise großzügigen deutschen Sozialleistungen – lieber in Deutschland einen der über fünfzig Aufenthaltstitel neu beantragen.
In einer Presseerklärung vom 26. Januar 2021 zum Urteil schreibt das OVG Münster (Aktenzeichen: 11 A 1564/20.A (I. Instanz: VG Arnsberg 12 K 3440/18.A) und 11 A 2982/20.A (I. Instanz: VG Düsseldorf 29 K 2705/18.A):
„Asylanträge von in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten dürfen grundsätzlich nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil zumindest derzeit ‑ vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls – generell die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Falle ihrer Rückkehr dorthin ihre elementarsten Bedürfnisse (“Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können. Das hat das Oberverwaltungsgericht durch Urteile vom 21. Januar 2021 entschieden und die vorausgehenden Urteile der Verwaltungsgerichte Arnsberg und Düsseldorf geändert.“
Die Anwälte haben also das scheinbar Unmögliche erreicht: Griechenland wird vom deutschen Oberverwaltungsgericht quasi im Handstreich über zwei anders entscheidende Instanzen hinweg zum nicht sicheren Herkunftsland erklärt. Ein EU-Staat! Was für eine Zäsur! Und das mit der Begründung, es wäre nicht gewährleistet, dass es in Griechenland genügend „Bett, Brot, Seife“ gäbe.
Was bei diesem Urteil allerdings unter den Tisch fällt: Als auf den griechischen Inseln (auch in Bosnien und anderswo) dafür gesorgt wurde, dass vom Staat und den privaten Organisationen bessere Unterkünfte geplant und organisiert wurden, wurden diese mehr als einmal samt „Bett“ abgefackelt. Die Migranten wollten nach Deutschland. Das war vielfach schon ihr Ziel, als sie sich in ihrer Heimat auf den Weg machten.
So betrachtet ist das OVG Münster jetzt vor diesem Begehr eingeknickt. Deutsches Recht? Danach haben zuvor die Gerichte in Arnsberg und Düsseldorf auch entschieden, aber sie sind zu einem anderen Schluss gekommen.
Die Vorgeschichte des Urteils aus Münster: „Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte die Asylanträge der Kläger, eines Eritreers und eines aus Syrien stammenden Palästinensers, als unzulässig abgelehnt, weil diese in Griechenland bereits internationalen Schutz erhalten hatten; gleichzeitig hatte es ihnen die Abschiebung dorthin angedroht.“
Aber was ist das für Formulierung des OVG Münster? Wie kann ein deutsches Gericht von einer „Abschiebung“ nach Griechenland sprechen? „Rücküberstellungen“ und „Abschiebungen“ sind zweierlei, und das ist keine Spitzfindigkeit: Abschiebungen betreffen in der Regel die Herkunftsländer der Migranten. Rücküberstellungen jenen EU-Staat, wo der Erstantrag gestellt wurde. Da geht es um die „Überstellung von Schutzsuchenden“.
Groteskerweise hat die deutsche Innenministerkonferenz den Jahr für Jahr verlängerten Abschiebestopp für Syrien jetzt auslaufen lassen. Das wiederum führt nach dem Urteil aus Münster zur grotesken Situation, dass der klagende Syrer zwar nicht nach Griechenland, dafür aber nach Syrien abgeschoben werden kann. Theoretisch.
Die Begründung der Erstinstanzen, die sich für eine Rücküberstellung ausgesprochen hatten, klingt nachvollziehbar: „Die Verwaltungsgerichte hatten die Klagen jeweils mit der Begründung abgewiesen, es lägen keine genügenden Anhaltspunkte dafür vor, dass die Kläger in Griechenland trotz der dort für international Schutzberechtigte herrschenden schwierigen Verhältnisse in eine menschenunwürdige Situation geraten könnten.“
Die Revision gegen diese Einschätzung zweier deutscher Gerichtsinstanzen hatte jetzt vor dem OVG Münster Erfolg: „Die Asylanträge (Red.: in Deutschland) der Kläger könnten nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil ihnen für den Fall ihrer Rückkehr nach Griechenland die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung drohe. Denn die Kläger gerieten in Griechenland unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not, weil sie dort für einen längeren Zeitraum weder eine Unterkunft noch eine Arbeit fänden.“
Die drohende Arbeitslosigkeit ist hier als Argumentation nur eine weitere Groteske. Die wenigsten Migranten bekommen übrigens einen Asylstatus, werden allenfalls geduldet oder erhalten einen der weiteren über fünfzig Aufenthaltstitel – viele von ihnen sind Wirtschaftsmigranten. Man mag das aus humanitären Erwägungen falsch finden: Aber Armut ist nach deutschem Recht kein Asylgrund. Und auch Klimaflucht ist längst noch keiner. Das müssten auch die Richter in Münster wissen. Wie ist es den Anwälten der Kläger dennoch gelungen, das OVG zu überzeugen, sich über die Entscheidung der ersten und zweiten Instanz hinwegzusetzen? Und was hat das für Auswirkungen, auf die vielen noch anhängigen Klagen – werden hier neue Hoffnungen geschürt?
Desweiteren meint Münster abschließend beurteilen zu können, dass die Migranten
„unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not“ geraten seien. Das OVG sieht ausreichende Belege dafür, dass diese Migranten in Griechenland kein „Bett, Brot, Seife“ bekämen. Das allerdings wäre Aufgabe der EU, hier EU-Asyl-Standards in einem Mitgliedsstaat durchzusetzen. Das kann ja nicht die Aufgabe des OVG in Münster sein. Aber: Wenn der Migrant selbst diese komfortable Situation gar nicht will, was sollen die Griechen machen, wenn die Unterkünfte immer wieder brennen?
Das OVG Münster führt weiter an, es gäbe eine beträchtliche Anzahl von Obdachlosen. Aber auch das ist teilweise selbstverschuldet. Aber nicht nur: Griechenland kann hier nicht ganz freigesprochen werden, denn die Regierung tut einiges dafür, diese missliche Lage zu provozieren. Um damit solche Entscheidungen wie in Münster zu erzwingen? Schon Mitte 2020 berichtete der Standard davon, dass anerkannte Flüchtlinge auf dem griechischen Festland obdachlos seien. Warum war das so? Weil die Regierung die Sozialprogramme gekürzt hatte. Sicher auch, weil die EU hier ein Programm eingeführt hatte, dass für „Bett, Brot, Seife“ sorgte. Allerdings nur für ein paar Monate, dann muss die staatliche Sozialhilfe oder eine Arbeitsstelle in Griechenland für den Unterhalt sorgen. Oder eben die Weiterreise nach Deutschland illegal organisiert werden.
Das OVG Münster weiß sogar, warum die Migranten lieber in Deutschland bleiben und nicht nach Griechenland zurück wollen:
„Sozialleistungen durch den griechischen Staat bekämen sie frühestens nach einem zweijährigen dauerhaften Aufenthalt in Griechenland, der durch inländische Steuererklärungen der beiden Vorjahre nachzuweisen sei. Angesichts der derzeitigen Arbeitsmarktsituation und Wirtschaftslage fänden die Kläger im Falle ihrer Rückkehr auch keine Arbeit. Die Arbeitslosenquote liege in Griechenland derzeit bei knapp 20 %. Die Corona-Pandemie habe erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaftslage. Das Bruttoinlandsprodukt habe im Jahr 2020 den heftigsten Einbruch aller Staaten der Europäischen Union zu verzeichnen gehabt. Der Tourismus, der mehr als ein Fünftel zum Bruttoinlandsprodukt beisteuere, sei im letzten Jahr um fast 80 % zurückgegangen. Der Zugang der Kläger zum Arbeitsmarkt werde durch die mangelnde Beherrschung der griechischen Sprache und das Fehlen einer spezifischen beruflichen Qualifikation zusätzlich erschwert.“
Der EU-Mitgliedstaat Griechenland ist also von einem deutschen Gericht zu einer Art Failed State erklärt worden.
Vor etwa zwei Jahren ist FDP-Chef Christian Lindner im Bundestag mit Anton Hofreiter (Grüne) aneinandergeraten. Lindner geriet in Rage und plauderte aus dem Nähkästchen der gescheiterten Jamaika-Verhandlungen zur Anerkennung der Magrheb-Staaten als sichere Herkunftsländer und der Verweigerung der Grünen da mitzuziehen. Griechenland jetzt also auf dem Niveau von Algerien, Marokko, Westsahara oder gar Libyen und Mauretanien?
Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen die Urteile nicht zugelassen.