Fangen wir mit dem Wort in der Mitte an. Dada ist aus dem Französischen entlehnt, nach dem kindersprachlichen Stammellaut für Pferdchen. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges entstand 1916 in Zürich der Dadaismus, der alle bislang geltenden Wertmaßstäbe und gesellschaftliche Konventionen für ungültig erklärte. Für Dadaisten waren Wissenschaft und Rationalität die modernen Dämonen, die zur Apokalypse des Ersten Weltkrieges geführt hatten. Dem Wahnsinn der Gegenwart sollte der Ohne-Sinn der Kunst gegenübergestellt werden. Die gesamte moderne Zivilisation, die gesamte bürgerliche Kultur sollte der Lächerlichkeit Preis gegeben werden. Erst wenn das alles abgeräumt sei, könne man grundsätzlich neu anfangen. In welche Richtung? Nun ja, bei einer konkreten Beantwortung könnte man glatt Gefahr laufen, logisch konsequent zu denken, was dann wieder zur Apokalypse führen könnte, deren Zeuge man gerade erst geworden war, das ließ man dann doch lieber sein. Konfus und konturlos, warum nicht?
Vom Züricher Dadaismus 1916 bis zum Genderismus 2020 ist es nur ein historischer Lidschlag des magischen Denkens. Das magische Denken hat sich das Kleid der Wissenschaft angezogen und nennt sich Gender. Keiner wagt, ihr dieses Kleid runter zu reißen, denn schließlich ist man politisch korrekt. Diese Korrektheit bricht sich nun auch linguistisch und phonetisch ihre Bahn. Das ist nur konsequent. Kindliche Stammellaute und magisches Denken waren schon immer eng befreundet. Die politisch korrektesten Stammellaute flötet derzeit Anne Will. Eine gewisse phonetisch-linguistische Zärtlichkeit für gendersensible Mitbürger*innen ist ihr nicht abzusprechen. Ob sie es trainiert hat? Zwischen „Bürger“ und „*innen“ vergehen exakt 0,75 Sekunden. Jeden Sonntag. In jeder Talkshow. Kann man nachmessen.
Ganz besonders konsequent praktiziert dies in Ton und Schrift auch das ZDF, was mitunter zu kaum noch lesbaren Sätzen führt:
Screenprint ZDF
Dass mit „Bürgern“ auch die Frauen einer Gesellschaft und mit Trumps „Kritikern“ und „Anhängern“ nicht nur die Männer unter ihnen gemeint sind – eigentlich logisch. Doch Logik ist laut Dada und Gender Teufelszeug. Stattdessen hat die sprachpolitische Genderkorrektheit die sprachliche Verunstaltung zum Programm gemacht. Stammellaute sind wieder en vogue.
Genderaktivisten, die an Dutzende Geschlechtsidentitäten glauben, neigen vermutlich dazu, das Gros der Menschen für einfach strukturiert zu halten, da sie diese sexuelle Vielfalt noch nicht erkannt haben. Da kann sich jeder ein Geschlecht aussuchen, unabhängig davon, was die Hebamme beim Baby unter dem Bauchnabel hat erkennen können. Wenn das Neugeborene in die Pubertät kommt, hat es möglicherweise schon zig Schulstunden über Geschlechtervielfalt hinter sich. Kein Wunder, dass Kinderpsychologen in Australien, Schweden, den USA, England und Deutschland festgestellt haben, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die behaupten, im falschen Geschlecht zu leben, statistisch um den Faktor 2000 gestiegen ist. Die postmoderne Fragmentierung des Selbst scheint in vollem Gange zu sein.
Ebenso in vollem Gange ist die linguistische Umerziehung der Bevölkerung. Sie reüssiert vor laufender Kamera im Permanentmodus. Anne Will machts möglich. Dieses gehauchte Sternchen-Stammeln wird millionenfach gesehen einmal wöchentlich in der ARD und millionenfach kopiert. Kleines Einmaleins der Massenpsychologie, funktioniert immer noch und im digitalen Zeitalter immer besser: Was nur oft genug wiederholt wird, wird schließlich geglaubt. Klappt auch hervorragend bei der sprachlichen Umerziehung.
Was medial vor-, wird verwaltungsmäßig nachgemacht. So hat die Stadtverwaltung Hannover über 10.000 Mitarbeiter auf „gendergerechte Sprache“ umgestellt. Das kann getoppt werden. Frankfurt wendet sich gleich an die gesamte Stadtbevölkerung und fordert sie mit einer Handreichung dazu auf, eine gendersensible Sprache zu sprechen, um auch non-binäre Menschen einzubeziehen. Non-binär sind alle Menschen, die nicht heterosexuell sind. Also rund 2 Prozent. Maximal.
Weitere Ursachen der gendermäßigen Umerziehung? Eine offenbart sich schon unfreiwillig sprachlich. Bürger*innen, Student*innen, Arbeiter*innen, Ärzte*innen… es ist genau dieses „Innen“, das den Blick auf die Realität trübt. Goethe konstatierte: „Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung. … jedes tüchtige Bestreben … wendet sich aus dem Inneren heraus auf die Welt, wie sie an allen großen Epochen sehen, die wirklich am Streben und Vorschreiten begriffen und alle objektiver Natur waren.“
Doch der westlich-gegenwärtige Subjektzentrismus hält sich an dem Mantra fest: Ich fühle so, also ist es so. So ist das nun mal im postfaktischen Zeitalter.
Nach dem Siegeszug des Neoliberalismus im Bündnis mit dem entfesselten Subjektzentrismus soll es keine Grenzen mehr gegeben. Löse den Nationalstaat auf, entsorge die Religion und führe das biologische Geschlecht ad absurdum: Dann ist er da, der willenlose und frei verfügbare Mensch. Da passt die Genderideologie wie der Schlüssel zum Schloss. Es soll keine Unterschiede mehr geben. Gebet der Gleichheitsideologie, neue Religion.
Zur Frage, warum die Genderideologie es so weit nach oben schaffen konnte, gehört vermutlich als Antwort auch ein in Achtsamkeits- und Empathie-Kursen aufgepumpter maskuliner Masochismus. Unter dem Eindruck des Emotionen- und Authentizitätsfurors der letzten Jahrzehnte hat der neue Mann seinen Neocortex vernachlässigt, jenen Bereich des Großhirns, der das komplexe Denken ermöglicht. Hätte das männliche Bewusstsein eine restneuronale Kapazität von Kritik zugelassen, würde es rasch erkennen, dass es sich bei der Genderideologie um die Auswüchse eines sich selbst feiernden, grenzenlosen Hyperindividualismus handelt. Wenn Biologie, Wissenschaft und ein „da draußen“ grundsätzlich geleugnet werden, hat die Wahrheit keine Chance mehr. Vielmehr Chancen hat das „…innen“ von 0,75 Sekunden, das medial ins kollektive Bewusstsein geträufelt wird.
Damit die Zukunft kein Albtraum wird, sollte man sich wieder auf die Suche nach der Wahrheit begeben. Die wird nicht leicht. Aber ausnahmsweise ist hier die Feststellung der Alternativlosigkeit einmal richtig. Sowohl die Wissenschaft als auch die Gerechtigkeit hängen von der Wahrheit ab. Beide sollten den Irrtum und die Unwahrheit ablehnen, wie gut sie auch gemeint sind.
Dr. med. Burkhard Voß, Autor von „Psychopharmaka und Drogen – Fakten und Mythen in Frage und Antwort“, Kohlhammer Verlag, ISBN-13: 978-3170746, 31.März 2020