Haben Sie gestern „Hart aber Fair“ gesehen? Nein? Schade! Denn es könnte die letzte Sendung des WDR-Formats gewesen sein. Frank Plasberg stellt die Frage, wie sinnvoll der Dauerlockdown ist. Leider hat er sich Gäste eingeladen, deren Antwort darauf nicht „sehr sinnvoll“ lautet. Versehentlich wurde dort mal richtig diskutiert – sogar die Corona-Maßnahmen als solche wurden in Frage gestellt.
Frank Plasberg möchte mit seinen Gästen über Alternativen zum Lockdown diskutieren. „Länger, härter, einfallsloser: Wie sinnvoll ist der Dauerlockdown?“ Dabei wird er ein wahres Kunststück vollbringen: Keine Alternative zum Dauerlockdown wird der Moderator ernsthaft aufgreifen und zur Diskussion stellen. Seine Moderationskünste lassen an diesem Abend schon sehr zu wünschen übrig – aber es wird dennoch die beste Hart aber Fair-Sendung seit langem.
„Hart aber Fair“ stellt die Frage an die Zuschauer: „Wie einfallslos ist der verlängerte Lockdown?“ Das Stimmungsbild hier fällt deutlich aus: Eine Twitteruserin schreibt, sie könne „platzen vor Wut“ bei soviel Ideenlosigkeit. Und selbst „Spiegel“-Kolumnist Sascha Lobo wird über die Willkür der Corona-Maßnahmen mit den Worten zitiert: „Die Leute haben die Schnauze voll“. Doch selbst wenn der berufslinke Irokese vom einstigen „Sturmgeschütz der Demokratie“ das feststellt – Malu Dreyer bleibt ungerührt.
Schnell wird deutlich: Die gewohnte Corona-Talkrunde, bei der mehrere Gäste einander und die Regierungslinie bestätigen, wird das hier nicht. Dazu trägt neben Hüther und Kekulé auch Susanne Gaschke bei: Die Welt-Journalistin offenbart, dass die Regierung zum Ende des letzten Jahres still und heimlich die Finanzierung von Intensivbett-Kapazitäten in Krankenhäusern eingestellt hat – und nun mit dem Argument, dass genau diese jetzt knapp sind, die Bürger in harte Lockdowns zwingen will. „Ich bin es ein bisschen leid, dass die Regierung ihre Aufgaben immer zurückdelegiert an die Bevölkerung und sagt: ‚ihr wart nicht brav genug‘.“
„Veranstaltung für Coronaleugner“
Insbesondere Michael Hüther begibt sich, zumindest nach ÖRR-Standards, schon extrem über die Grenze des Sagbaren hinaus. „Man muss mal fragen, ist das alles so ernst?“ äußert er im Blick auf Corona bei seinem wahrscheinlich letzten Auftritt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Sogar den verbotenen Vergleich mit der Grippe zieht er – Auweia, Frank Plasberg hat sich einen waschechten Coronaleugner ins Studio eingeladen! Der stellt sogar infrage, ob die Lockdown-Maßnahmen überhaupt funktionieren. Der Lockdown in Bayern, so Hüther, sei immer härter als der in NRW gewesen. Trotzdem seien die Zahlen im Freistaat gleichbleibend höher als die im Land von Rhein und Ruhr. Mit seiner extrem anderen Sicht mischt der Wirtschaftswissenschaftler die Runde richtig auf. Darauf eingehen will keiner so wirklich, schon gar nicht Plasberg. Das IW können wir aber wohl schonmal als „gecanceled“ ansehen. Gewisse Schützenhilfe erhält Hüther von Professor Kekulé, der vor allem Regierungsversagen bloßstellt. Aus seinen Erfahrungen bei Gesprächen mit der Politik berichtet der Mikrobiologe, die Regierung habe den Kauf von Schnelltests, die bereits im Frühjahr verlässlich verfügbar waren, zunächst abgelehnt – und so das Pandemie-Management natürlich extrem erschwert. Eigentlich ein Knaller, der in der Sendung aber sofort wieder untergeht.
Professor Hüther sagt, wir sollten mit der neuen Realität zu leben lernen – mit den abertausenden Influenzatoten jedes Jahr würden wir ja auch klarkommen. „Was ist eigentlich unser dauerhaftes Bild? Was ist im Winter 2021?“ stellt Hüther den Lockdown infrage. Malu Dreyer grätscht dazwischen: „Ich kann ihnen sagen, was dann ist, dann sind wir geimpft.“ „Es ist doch absurd und naiv zu glauben, dass das Virus verschwindet, weil 70% der Leute geimpft sind.“, erklärt der Professor daraufhin. Wir würden also dauerhaft mit Corona zu tun haben. Der Lockdown sei keine Dauerlösung. „Was ist eigentlich unsere Vorstellung unserer neuen Realität?“
Die Empörung über die Sendung nimmt außerhalb des Studios schnell Form an, auf Twitter entlädt sich ein Shitstorm. „Jetzt wird #HartAberFair aber im Ernst zur Veranstaltung für Coronaleugner“ schreibt ein User und erntet Beifall. Ein anderer schreibt „#hartaberfair spiegelte heute auf traurige Weise die Gesellschaft wider: eine Minderheit, die viel lauter ist, die wirksame Maßnahmen in Frage stellt“ oder: „Hüther will die Intensivbetten füllen. Von mir aus kann er gerne den Anfang machen.“ Die Krönung: „Was bei #hartaberfair gerade läuft, kommt schon fast einer Sabotage des ‚Lockdowns‘ und vernünftiger Wissenschaft gleich.“ – Entsprechend vernichtend fällt später die Sendungskritik der Süddeutschen Zeitung aus.
Susanne Gaschke stellt in der Sendung fest: In der Gesellschaft fehle der Platz für Kritik an den Maßnahmen. Auch deswegen, weil jeder Versuch einer solchen sonst mit „Coronaleugner!“, „Nazi!“ oder ähnlichem niedergeschrien wird. Wie überraschend, dass es ausgerechnet in einer ÖRR-Talkshow diesen Platz gibt und eine Debatte funktioniert. Die Verantwortlichen werden sich die Haare raufen – wie konnte das passieren? Wer hat da gepennt? Um den Fehler zu korrigieren, dürfen beim nächsten mal wahrscheinlich Luisa Neubauer, Karl Lauterbach und Peter Altmaier ergebnisoffen diskutieren und zur selben Meinung kommen. Vielleicht schaffen sie „Hart aber Fair“ aber auch einfach direkt ab und lassen stattdessen wahlweise eine Regierungserklärung verlesen oder „Anne Will“ zwei mal die Woche laufen. Aber ich wiederhole mich.