Wer einmal bei einem Besuch in Washington DC nach einer Visite des größten Soldatenfriedhofs der USA in Arlington am Lincoln Memorial vorbei die Mall entlang lief und die vielen Schulklassen sah, die, die Smithsonian Museumsmeile entlang in Richtung Capitol und White House strömten, wird sein ganzes Leben die andächtig glänzenden Augen der Jugendlichen und dann auch anderer Amerikaner aller Schichten und Hautfarben nicht vergessen können. Hier, in diesem Areal, liegt das Herzstück der amerikanischen Demokratie. Nur wer das versteht, kann begreifen was am Abend des Mittwoch in der amerikanischen Hauptstadt geschehen ist. Rund etwa die Hälfte der amerikanischen Wahlbürger fühlt sich schlicht betrogen. Die Wut darüber ist überall in den USA so groß, dass selbst ewig gültig geglaubte Tabus, wie das Eindringen in das Capitol, gebrochen werden können. Dass das nicht geduldet werden kann und Wiederholungen ausgeschlossen werden müssen, muss jedem einleuchten. Die Ursache für diese Eskalation aber allein dem scheidenden Präsidenten Donald Trump und seinen angeblich dumpfen und gewaltorientierten, natürlich rechtsextremistischen, Wählern zuzuweisen, greift nicht nur zu kurz, sondern ist auch gefährlich.
Nichts ist dem amerikanischen Wesen fremder als der den Einzelnen vereinnahmende Kollektivismus. Dazu gehört auch eine tiefe Abneigung gegen staatliche Bevormundung. Diese geht sogar so weit, dass viele Amerikaner eine Pflicht zur Krankenversicherung ablehnen. Diese sei unamerikanisch und greife in das Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen ein. Für Europäer eine Horrorvorstellung und nicht zu verstehen. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Zusatz zur amerikanischen Verfassung, in dem das Recht jedes amerikanischen Bürgers auf den Besitz einer Schusswaffe zur Selbstverteidigung festgeschrieben ist. Sowie jeder letztendlich für sein Glück oder Unglück selbst verantwortlich ist, so hat auch jeder das Recht sich selbst mit allen Mitteln zu verteidigen. Für Europäer kommt dies einer Gewährung von Schwachsinn gleich. Das kann ja jeder halten wie er will. Aber es ist nun mal die amerikanische Mentalität. Ebenso wie die christliche Religion und das Bekenntnis zu Familie und Vaterlandsliebe vom ersten Schultag an zum Lehrstoff gehören. So gibt es in vielen Bundesstaaten ein eigeneres Lehrfach „The american dream“, bei dem jede Unterrichtsstunde mit dem Singen der Hymne und der Ehrerbietung vor der US-Flagge als Symbol der amerikanischen Werte beginnt.
In Deutschland beispielsweise trauen sich nach einer Umfrage des international als seriös bekannten Instituts für Demoskopie in Allensbach bereits 2/3 der erwachsenen Bevölkerung nicht, ihre Meinung zu bestimmten politischen Fragen aus Angst vor Benachteiligung offen zu äußern. Wenn das kein Alarmzeichen für eine Demokratie ist. Muss man sich wirklich wundern, wenn die „ewiggestrigen, zurückgebliebenen und reaktionären“ Elemente einer Gesellschaft beginnen, sich zu wehren? Zumal ihnen jeder Dialog verweigert wird. Was ihnen und ihren Argumenten für das bisher Gültige entgegenschallt, ist Diffamierung, Ausgrenzung und die Verteufelung als rechts außen. Insofern könnte das Geschehen von Washington ein Fanal für die Notwendigkeit einer neuen großen gesellschaftlichen Debatte sein.
Um Entwicklungen wie in den USA gar nicht erst entstehen zu lassen, sollten alle Seiten unserer Gesellschaft das Gespräch nicht nur mit Gleichmeinenden, sondern auch mit anderen suchen. Übrigens – in den Großstädten der USA bilden sich Kreise von Mediatoren, die über Telefonketten gemeinsame Abende beider Kulturen organisieren.