„Ende gut, alles gut“. Dieses einst vom damaligen Sowjetbotschafter Pjotr Abrassimov gesprochene Fazit nach Abschluss des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin 1971 ist zu einer historischen Formulierung der Diplomatie geworden. Zum Ergebnis der Brexit-Verhandlungen der EU mit dem abtrünnigen Großbritannien kann man das nicht sagen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, hat man ein fragiles Gerüst zusammen gezimmert. Richtig ist: Die Briten behalten weiterhin für ihre Produkte freien Zugang zur Europäischen Union.
Ob sie freilich auf immer und ewig deren Kriterien vom Umweltschutz über die Arbeitsbedingungen bis hin zu den Gesundheitsregeln erfüllen werden, steht in den Sternen. Hier wurden einfach Punkte offen gelassen und in die Zukunft vertagt. Schon jetzt darf man auf Situationen gespannt sein, in denen die Festland-Europäer ihr unendlich dichtes Geflecht aus Vorschriften und bürokratischen Lasten weiter ausbauen. Neben dem leidigen Gerangel um Fischfang-Rechte, dem Verbot wettbewerbsverzerrender Staatssubventionen und einer moderaten Lösung der Nordirland-Problematik bleibt Vieles der Zukunft vorbehalten. Wobei schon jetzt eine Tücke sichtbar ist: Keine Zölle zwischen Big Ben und EU-Europa wird als Erfolg verkündet, Zollkontrollen und Stationen wird es aber trotzdem geben.
Jenseits aller Handelsfragen bleibt aber ein Faktum, über das nur wenig oder gar nicht gesprochen wird. Der Abschied Großbritanniens aus dem institutionell vereinten Europa ist von hoher psychologischer Bedeutung und eine Zäsur in der Geschichte Europas. Mögen auch viele in Brüssel und noch mehr in Berlin mit einer Mischung aus Mitleid und Arroganz auf den Eigenbrötler Johnson und überhaupt die schrulligen Briten heute herabblicken, insgeheim wissen alle, dass die europäische Idee ins Mark getroffen wurde. Eine EU ohne London ist einfach keine EU. Es wird früher oder später zu weiteren Austritten kommen. Schon jetzt sind die Fliehkräfte sichtbar.
Neben den bitteren Erfahrungen der europäischen Geschichte war auch für das Zusammenwachsen des westlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg die Bedrohung durch die kommunistische Sowjetunion und ihre Vasallen konstituierend. Doch die Bedingungen haben sich grundlegend verändert. Hinzu kommt, dass das europafixierte Deutschland in den vielen Jahren der Regierung Merkel das Fundament der Union essentiell erschüttert hat. Vorbei die Zeiten, in denen Helmut Kohl immer wieder mahnte, nicht einmal der Hauch deutscher Dominanz dürfe durch den Raum wehen. Unverändert, und keiner wusste das besser als der Alt-Kanzler, wird jeder Schritt Deutschlands aufmerksam mit verstecktem Misstrauen beobachtet.
Man kann nicht in vollendeter Machtfülle mit gut oder nur noch scheinbar gut gefüllten Geldtaschen verlangen, dass die Gefühle und Ansichten nach Jahrzehnten kommunistischer Diktatur und Unterdrückung der Eigenheiten der Völker einfach übernommen werden. In Warschau, Budapest und anderswo ballt man die Fäuste in der Tasche. Was geschieht eigentlich, wenn plötzlich China den Geldhahn großzügig aufdreht und verführerische Kredite anbietet? Die wahre Rechnung präsentiert Peking bekanntlich immer später. Aber eine Erlösung von der Dominanz nicht zuletzt Deutschlands hat auch ihren Reiz. Versuchungen aus Moskau dürfte man weniger unterliegen. Denn die Erfahrungen mit russischen Expansionsgelüsten haben diese Länder zur Genüge gemacht.
Hochmut kommt vor dem Fall! Dieses Schicksal könnte schneller als gedacht die EU erreichen. Die neuen Entwicklungen sind erst am Anfang. Von der Überlastung der Gemeinschaft durch den schleichenden Vollzug einer Transfer-Union ganz zu schweigen.
Ein vereintes Europa als Vorbild für alle ist eine fast paradiesische Vorstellung. Doch die Interessen, Realitäten und die Unvernunft der Mächtigen stehen dagegen.